Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Stimme

Titel: Die Stimme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
Vom Netzwerk:
Zärtlich wickelte ich sie aus dem Tuch und behutsam, o, ganz, ganz behutsam legte ich die Löffel um das Köpfchen. Ich mußte sie viel tiefer als gewohnt hineinschieben; wenn ich nur keinen Schaden anrichtete! Sehr, sehr vorsichtig nahm ich die Griffe in die Hand. Nur John wandte kurz den Kopf, um meine – oder besser seine Arbeit – zu prüfen, und ehe er den Blick wieder abwandte, sah ich das unmerkliche, anerkennende Nicken des Fachmanns, denn er sah wohl, wie vollendet das Werkzeug für meine Hand gefertigt war. Ich zog – und der Kopf folgte. Sowie die Schultern geboren wurden, ließ ich die Zange los und gebrauchte für den Rest die Hände. Erst kam der Rumpf – es war ein kleines Mädchen – und dann die Füße. Ich spürte, wie Augen auf mir ruhten, doch ich achtete nicht darauf.
    »Das Kind lebt!« entfuhr es der Wehmutter, und sie nahm es mir ab und belebte es kundig. Man konnte sehen, sie verstand sich auf ihr Gewerbe. Für einen Mann wie Master John gab es nur das Beste; wer sonst hätte wohl so teure Fachleute ans Wochenbett einer Frau gerufen? Die Menschen im Raum drängten sich alle um die Wehmutter und wollten das Kind ansehen. Die Mutter war verloren, das Kind aber gerettet. Der Vater sah enttäuscht aus, er hatte mit der Ehefrau für eine Tochter gezahlt – und sich dabei zweifellos einen ganzen Sack voll Sorgen eingehandelt, wenn er versuchen wollte, die Tochter ohne Mutter aufzuziehen.
    Aber John hatte nur Augen für seine Tochter, die grauweiß auf dem Bett in der dämmrigen Nische lag. Sie mußte einmal hübsch gewesen sein und wäre es immer noch, wenn sie lebendig und rosig gewesen wäre. Dunkle Locken klebten ihr schweißfeucht am Kopf, und ihre Haut war rein und makellos, auch wenn sie jetzt totenbleich war. Wie alt mochte sie sein? Vielleicht fünfzehn – sie sah ein wenig jünger aus als ich, vielleicht ein, zwei Jahre. Eine Träne rann John übers Gesicht und lief in seinen Bart.
    »Kleine Wehmutter, die Waffe hat einen gerettet, aber mein Kind ist verloren.«
    »Noch nicht ganz verloren.« Ich legte den Kopf auf ihre Brust und vermeinte einen leisen Herzschlag zu spüren. Und dann überwand ich diesem trefflichen Mann zuliebe meine Furcht und Schüchternheit und sagte: »Ich will noch etwas versuchen – nur eines noch.« Wieso eigentlich Furcht und Schüchternheit? Schüchternheit, weil ich verlegen war, ja, mich sogar schämte, wenn Fremde die Gabe womöglich sahen. Vermutlich war ich insgeheim stolz darauf, daß ich sie erhalten hatte, aber insgeheim glaubte ich auch, daß ich ihrer vielleicht nicht wert sei oder daß sie sich im Beisein unfreundlicher Zuschauer nicht einstellen würde. Gut, daß die anderen sich in diesem Augenblick um die Wiege drängten, sonst wäre ich vor dem Versuch zurückgeschreckt. Außerdem hatte ich furchtbar Angst vor dem Tod. Als ich meinen Geist öffnete, daß die Gabe hindurchgehen möge, da spürte ich das schwarze, saugende Todesgefühl, das mich mit ins Grab ziehen wollte. Der Tod machte mir entsetzlich Angst, ich wollte nicht durch einen anderen Menschen hineingerissen werden, dem Retter gleich, welcher von einem Ertrinkenden mit nach unten gezogen wird.
    Aber ich redete mir zu: »Nur Mut. Bist du barfuß durch die Flammen gegangen, so kannst du auch diesem Mädchen helfen, denn es wird mehr geliebt, als du es jemals wurdest – oder wirst.« Und ich fiel auf die Knie und betete um Kraft, dann bekreuzigte ich mich und versetzte mich in jene Geistesverfassung, die nichts von Angst und Leidenschaft weiß und nichts im Raum duldet als das Licht . Und zur gleichen Zeit, als ich es sacht orangefarben in den Winkeln leuchten fühlte, da spürte ich auch wie aus der Ferne den ersten, sanften, schattenhaften Sog des Todes rings um die Frau. Sie atmete noch, doch kaum. Ich schob alle Gedanken beiseite und richtete meinen Geist noch fester auf eine vollkommene Leere. Das Licht im Raum leuchtete jetzt heller. Ich hörte einen Laut, der kein Laut war, sondern eher ein Summen in meinem Kopf. Die Kraft lief von dort in meine Hände, welche ein wenig zitterten. Die Handteller fühlten sich rotglühend an. Ich umfaßte ihr eiskaltes Gesicht mit beiden Händen. Das schwarze Etwas zerrte an mir, bis ich dachte, auch ich wäre tot, aber ich hielt meinen Geist wie mit einer Stahlrute weiter fest auf die Leere gerichtet – genauso wie damals, als ich über die glühenden Kohlen ging.
    Und dann konnte ich mich irgendwie nicht mehr halten – es war, als

Weitere Kostenlose Bücher