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Die Stimme

Titel: Die Stimme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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und hob ein prachtvoll geschnitztes, kleines Elfenbeinkästchen heraus.
    »Das hier habe ich einst für eine ungedeckte Schuld erhalten. Es hat große Macht – zuviel Macht, als daß man es tragen könnte. Es ist sehr alt und kommt von jenseits des Meeres. Keine Schweinshaxe, meiner Treu!« Er öffnete das Kästchen und holte ein Kreuz von einer seltsamen, schlichten, jedoch erlesenen Machart heraus. Hell glänzte es im Kerzenschein, denn es war aus sattem, rötlichem Gold gefertigt. Er hob es behutsam heraus und berührte dabei weder Kreuz noch Kette, sondern faßte es mit dem Seidentuch an, in das man es eingeschlagen und in die Schachtel gelegt hatte.
    »Seht Ihr, wie ich es halte? Behutsamer nämlich als rotglühendes Metall aus der Esse. Ich habe es ein Mal berührt, und das ging mir durch und durch! Man bekommt Brandblasen auf der Haut, wenn man es trägt, es sei denn, man wandelt im Herrn. So sagte man mir jedenfalls. Und darum ist es, wie Ihr seht, für mich wertlos, wertlos für den Vorbesitzer, vermutlich wertlos für fast alle Menschen. Einmal nur habe ich es versucht, aber – also, ich bin nicht immer ein guter Mensch gewesen. Faßt es ruhig an! Wenn Ihr es berühren könnt, dann könnt Ihr es tragen, und wenn Ihr es tragt, verleiht es Euch gewißlich große Macht.«
    Ich streckte einen Finger der linken Hand aus – einen, den ich am ehesten entbehren konnte – und berührte das Kreuz sehr vorsichtig, so als wäre es heiß. Ich verspürte kein Brennen, und so faßte ich es bedächtig noch einmal an. Immer noch kein Brennen. Ich nahm es in die Hand.
    »Genau wie ich mir gedacht habe«, sagte John und war recht zufrieden mit sich. »Als ich Euch dort neben Isabel knien sah, und Euer Gesicht leuchtete wie ein Dutzend Kerzen, da sagte ich zu mir, ›die kann das Kreuz tragen, das ich schon solange habe‹. Mögt Ihr es auch berühren, Vater?« Der Priester lehnte mit einem Kopfschütteln ab. John ergriff das Kreuz behutsam an der Kette, doch immer noch im Tuch, und legte sie mir über den Kopf. Beide wichen zurück, als erwarteten sie, daß es zischte, wenn es meine Haut berührte. Es zischte keineswegs. Meiner Lebtage hatte ich nichts Schöneres gesehen. Da hing es nun um meinen Hals und war das Lösegeld für einen Fürsten wert.
    »Zieht mit meinen Gebeten und meinem Dank«, sagte John. »Doch wartet – Ihr seht immer noch schwach aus. Möchtet Ihr etwas zu trinken? Zu essen? Ich schicke Euch mit einem Jungen zu Pferd zurück – Ihr macht mir nicht den Eindruck, als könntet Ihr schon wieder weit laufen.«
    »Ich möchte schon etwas – Brot vielleicht und Ale, wenn Ihr das habt.«
    »Wißt Ihr nicht, mit wem Ihr es zu tun habt, Weib?« brüllte Master John, und war wieder beinahe der Alte. »Wein sollt Ihr haben – und wir andern auch.«
    Er ging uns voran in die Wohnstube, wo alle anderen schon den gleichen Gedanken gehabt zu haben schienen. Man hatte die flackernden Kerzen durch neue ersetzt und eine Art zweites Abendessen aufgetragen. Kaltes Geflügel, Pasteten und Ale standen dort, und ein Gericht aus Weizenbrot, das man in Wein eingeweicht hatte, für die junge Mutter, die sich im Bett aufgesetzt hatte. Ihre eigene Mutter versuchte, sie zum Essen zu bewegen. Das Kind war säuberlich gewindelt, und die Wickelbänder waren fest angezogen. Es schlief friedlich, nur eine leichte Spitzigkeit des Kopfes und ein großer, blauer Fleck auf den Wangenknochen deuteten noch darauf hin, daß es dem Tod um Haaresbreite entkommen war. Die Leinentücher waren gewechselt worden und sauber, und die von der Geburt stark mitgenommene Strohmatratze hatte man entfernt, sie sollte verbrannt werden. Alles im Zimmer zeugte von Freude. Einen Augenblick gab es mir einen Stich, es war der Neid auf diese glückliche Familie. Ach, wenn doch solche Geborgenheit auch mein eigen wäre!
    Doch sie war es, denn John sorgte sehr gut für mich. Und als er einen Augenblick einmal nicht seine Tochter und dann die neue Großtochter pries, rief er nach Wein – echtem Wein, nicht etwa Spülicht. Als die Morgenröte durch die Läden drang, frühstückten wir königlich. Aber während ich noch den Mund voll Brot hatte und schon danach lechzte, es mit weiterem Wein hinunterzuspülen, da richtete der Priester, der mir still zugesehen hatte, das Wort an mich:
    »Sagt mir, Margaret – Ihr nehmt nicht vom Geflügel, und doch ist nicht Fastenzeit. Habt Ihr ein Gelübde getan?«
    »O nein, Vater Edmund, ich kann bloß nichts essen, was einmal

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