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Die Stimme

Titel: Die Stimme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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Augen gehabt hat. Davon bekomme ich Magenschmerzen.« Ich versuchte zu schlucken, denn ich wollte nicht mit vollem Mund reden und unmanierlich wirken.
    »Wenn es also nicht mit einem Gelübde zu tun hat, versucht Ihr dann nicht etwa, übertrieben fromm zu sein? Wie eine Heuchlerin?«
    »O nein, Vater. Ich bin keine Heilige. Ich liebe die Heiligen.« Und dann setzte ich eiligst hinzu: »Ich liebe sie wirklich, aber so gut wie sie werde ich nie sein. Ich bin feige. Und gefräßig.« Und ich trank noch einen großen Schluck. Wie oft bekommt man schon richtigen Wein aus Deutschland vorgesetzt?
    Er bewegte die Hand sehr langsam zwischen der Kerze und meinem Gesicht hin und her und sah gut dabei zu. »Und doch«, sagte er ruhig, »wirft meine Hand keinen Schatten, denn Euer Kopf und Eure Schultern strahlen ihr eigenes, schwaches Licht aus. Es war noch heller, gerade eben – ehe Euch die Sinne schwanden.«
    »Das Licht hier spielt uns einen Streich«, sagte ich immer noch mit vollem Mund. »Merkt Ihr denn nicht, das Tageslicht dringt schon herein.«
    »Mmmm – mag sein, aber ich wüßte zu gern, ob Ihr nun Gott oder dem Teufel dient.«
    Das verstörte mich. Das Mahl neigte sich dem Ende zu. Vater Edmund sagte zu unserem Gastgeber:
    »Ihr braucht keinen Jungen mitzuschicken; ich begleite die Wehmutter nach Haus.« Und so ließ John Vater Edmunds grauen Zelter aus dem Stall holen und ein anderes Pferd für mich satteln, und nach manch dankbarem Lebewohl machte sich unser kleiner Trupp im rosigen Morgenlicht auf den Weg.
    Als ich von dem Trittblock an der Stalltür aufgestiegen war, band Vater Edmund das Halfter meiner mausgrauen, kleinen Stute an seinem Zwiesel fest und ließ so nebenbei fallen:
    »Was für ein prächtiger Umhang; meines Wissens verdienen Wehmütter nicht so gut, daß sie sich Pelzfutter in ihrer Kleidung leisten können.« Dazumal wurde ich bei derlei Bemerkungen noch nicht recht mißtrauisch, und so antwortete ich:
    »Er ist die Teilzahlung für eine Entbindung, bei der ich einst geholfen habe. Bei einer großen Dame, Lady Blanche de Monchensie.«
    »Von der habe ich gehört«, sagte er und stieg auf. Das Geschirr seines Pferdes knirschte, als er das Gewicht verlagerte.
    »Habt Ihr dabei mit Eurem Trick gearbeitet?« Er gab dem Zelter die Sporen, führte meine Stute vom Trittblock fort und aus der Stallgasse hinaus auf die Giltspur Street. Die Waffenschmiede hatten schon offen, und im Vorbeireiten konnten wir das Gelärme von Hammer auf Amboß hören.
    »Es war die erste Geburt, bei der ich dabeigewesen bin. Ich habe meiner Lehrherrin geholfen. Wir arbeiten nie mit Tricks, nur mit gesundem Menschenverstand und Gebet«, antwortete ich ihm. Inzwischen waren wir in die Aldersgate Street eingebogen und näherten uns dem Stadttor.
    »Und ich glaube, Ihr arbeitet mit Tricks«, sagte er. »Seid Ihr eine Heilige?«
    »Nein, ich bin keine Heilige. Ich versuche, gut zu sein, aber manchmal will das nicht ganz gelingen. So geht es wohl den meisten Menschen. Wie gut, daß Gott Erbarmen mit uns hat.« Seit dem Morgengrauen war das Stadttor geöffnet. Wir passierten es hinter zwei großen Karren und einer Gruppe Landfrauen, die frische Eier verkaufen wollten, alle fein säuberlich in Körben zwischen Farnkraut verpackt, welche sie auf einen Esel geladen hatten. Auf dem Cheap rührte es sich schon, die Ladenfenster waren geöffnet und die Waren ausgelegt, so daß Kauflustige sie prüfen konnten. Schon priesen die ersten Marktfrauen ihre Erzeugnisse an, während Hausmütter mit dem Korb am Arm sich durch die auf Tüchern am Boden ausgebreiteten Waren schlängelten. Ich bemerkte, wie Vater Edmund mich im Dahinreiten eingehend musterte.
    »Und dennoch – dennoch könnt Ihr das Brennende Kreuz tragen«, sagte er in nachdenklichem Ton mehr zu sich selbst.
    »Ist es berühmt?« sagte ich. »Ich habe noch nie davon gehört.«
    »Es ist berühmt. Ich selber würde nicht wagen, es anzufassen«, erwiderte er.
    »Ich vielleicht auch nicht, wenn ich davon gewußt hätte.«
    »Ihr glaubt also, daß Euch Unwissenheit gerettet hat?«
    »Nein, Beobachtung. Meine Lehrherrin hält viel von Beobachtung. Sie sagt ›Beobachte und behalte es im Kopf‹. Seid Ihr beispielsweise nicht darauf gekommen, das Brennende Kreuz könnte vor langer Zeit in Gift getaucht worden sein? Das hätte im Laufe der Zeit abgehen oder seine Kraft verlieren können.« Er ritt eine Weile schweigend dahin. Wir durchquerten Cornhill und bogen schließlich in unsere

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