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Die Stimme

Titel: Die Stimme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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Finger um das Kreuz, daß es beinahe in seiner großen, grobknochigen Faust verschwand.
    »Ich spüre überhaupt nichts.« Sein Gesicht trug einen Ausdruck selbstgerechter Freude.
    »Gut, dann seid auch Ihr ein tugendhafter Mann«, sagte Margaret mit einem Lächeln.
    »Seid Ihr jetzt zu müde für Euren Leseunterricht?« fragte Bruder Gregory, und seine Befriedigung wurde zur Besorgnis.
    »Dafür bin ich nie zu müde. Ich lerne doch so gern. Habt Ihr mich schon einmal Französisch sprechen hören? Madame sagt, ich habe es bald geschafft. Je parle correctement presque tout le temps, maintenant .«
    »Ei, das ist aber sehr gescheit«, antwortete Bruder Gregory auf Französisch. »Doch wofür wollt Ihr es denn schaffen?«
    »Wir geben ein großes Essen mit vielen bedeutenden Gästen. Dabei möchte ich es zum ersten Mal ausprobieren. Findet Ihr, daß ich mich wie eine Dame anhöre?« Margarets Französisch hatte die modische, nasale Aussprache einer reichen Klosterschule. So langsam und genau wie sie es artikulierte, konnte man ihm einen gewissen Reiz und Charme nicht absprechen.
    Gregory sagte auf Englisch. »Euer Mann hat eine gute Lehrerin gewählt. Ihr habt einen netten Akzent. Ich finde, Ihr könnt sehr gut nachahmen.« Vor Freude wurde Margaret ganz rot.
    »Wir beginnen mit dem Diktat«, sagte Gregory brüsk und tat so, als ob er es nicht bemerkt hätte. »Nehmt Euer Täfelchen und schreibt als erstes ›Die Frauen seien Untertan ihrer Männer‹.«
    Margaret schnitt ein Gesicht, ritzte aber alles sorgsam mit dem Griffel ein. Bruder Gregory ging im Zimmer auf und ab, kratzte sich geistesabwesend die Hand und überlegte sich den nächsten Satz. Margaret blickte von ihrem Platz am Fenster zu ihm auf.
    »O, Bruder Gregory, was ist mit Eurer Hand?«
    »Ich muß mich kratzen; es juckt.«
    »Ach, wirklich, ist sie etwa rot?«
    »Nein, es ist nur ein Stich. Ihr habt mir einen Floh geschenkt.«
    »Ich habe keine Flöhe, Bruder Gregory«, beharrte Margaret.
    »Jeder hat Flöhe, Margaret. Das gehört zu Gottes Plan.«
    »Ich nicht. Ich wasche sie ab.«
    »Margaret, wo bleibt denn Euer Verstand? Sie hüpfen einfach zurück. Ihr könnt Euch gar nicht soviel waschen, daß Ihr keine hättet.«
    »Doch.«
    »Habt Ihr denn keine Angst, daß Ihr Euch die Haut abwascht? Das könnte nämlich passieren. Und das ist viel ärger als Flöhe.« Bruder Gregory sprach im Ton absoluter Gewißheit.
    »Das sagt mir jeder. Sie ist aber noch nicht abgewaschen.«
    »Margaret, Ihr seid dickköpfig, und das tut nicht gut. Als nächsten Satz schreibt Ihr mir: ›Einen Floh kann man nicht abwaschen.‹«
    »Ist es so richtig?« Sie hielt ihm das Täfelchen hin, und Bruder Gregory schüttelte mit gespielter Entrüstung den Kopf.
    »Ihr könnt einen zur Verzweiflung bringen, Margaret, ›Floh‹ schreibt man nicht mit einem ›o‹, sondern mit zwei.«

Kapitel 9
    B ruder Gregory schaute aus seinem kleinen Fenster unter der Traufe und überlegte, was er mit dem Rest des Tages anfangen sollte. Es war ein unvergleichlich schöner Morgen, wie man sie im Winter selten erlebt. Die Sonne hatte sich durch die Wolken gekämpft und war dabei, das Eis auf den kahlen Zweigen des Baumes vor seinem Fenster zu schmelzen, so daß jeder Zweig von Wassertropfen glänzte. Über den steilen Ziegeldächern der City zeigten sich große Flecke von Blau, prächtig anzusehen zwischen den dahineilenden Wolken. Ein Windstoß fuhr klar und kalt durch sein Zimmer und die trocknenden Seiten auf dem Tisch. Er war schon vor dem Morgengrauen aufgestanden und hatte bereits allerhand geschafft, woraus folgte, daß er sehr zufrieden mit sich war. Er war zur Messe gewesen, hatte über die Sünde der Zornmütigkeit und die Tugend der Sanftmütigkeit meditiert und sich mit Brötchen vollstopft, die man ihm gestern bei Kendalls aufgedrängt hatte, da dort Backtag war. Dann war er mit dem Psalter ein gutes Stückchen vorangekommen, der nun fast fertig zum Binden war. Aber er hatte kaum noch Tinte – es wurde Zeit, neue einzukaufen. Das machte den Entschluß leicht. Er würde heute zu Nicholas gehen, das Binden absprechen und sich dabei auch neue Tinte holen.
    So zog er denn etwas zögernd die Nase aus der frischen Luft, schloß den Laden und kehrte zum Tisch zurück. Säuberlich stapelte er die getrockneten Seiten, dann nahm er sein Tintenhorn und den Federkasten und hing sie an seinen Gürtel. Die Feder keß hinters Ohr gesteckt, sprang er die wackelige Außenstiege hinunter und summte

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