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Die Stimme

Titel: Die Stimme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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Livree vor unserer Tür. Seine Herrin wollte ihre Haut behandelt haben und meinte, sie könne es mit mir versuchen, da die Ärzte sie im Stich gelassen hätten. Ich dachte, sie hat durch Vater Edmund von mir gehört, denn in so hohen Kreisen verkehre ich nicht. Die Dame war Ausländerin, und ich verstand sie nicht, aber eine ihrer Gesellschafterinnen, ein schönes, erlesen gekleidetes, dunkelhaariges Mädchen, übersetzte mir, was ihr fehlte. Madame hatte sich von der Welt zurückgezogen und ihr Gesicht verschleiert, damit man es nicht sah. Es bestand nur noch aus offenen Schwären und Pusteln. Man hatte sie zur Ader gelassen, geschröpft, sie hatte ausgefallene Arzneien aus gestampftem Gold und Quecksilber eingenommen. Nichts hatte angeschlagen. Ihr entnervter Arzt hatte ihr am Ende gesagt, jetzt hülfe nur noch Beten, und so hatte sie nach einem Priester von der St. Paul's Kathedrale geschickt.
    Man führte mich in einen Raum, der um vieles luxuriöser war, als ich diesseits von Eden erwartet hatte. Es war wunderbar warm, doch kein Rauch vom Herdfeuer störte. Das Feuer war in der Wand eingelassen, und sein Rauch zog durch einen sinnreich erdachten Schornstein ab, der über einem reich gemeißelten Kaminsims emporstieg. Die Wände über den geschnitzten Paneelen waren ein einziger Wandteppich aus gold-durchwirkter Seide. Das Licht konnte in breiten Strahlen hereinfallen, ohne daß zugleich Frostluft eindrang, denn die Fenster waren aus kleinen, durchsichtigen Glaskreisen gemacht und fast so schön, wie man sie in der Kirche zu sehen bekommt. Man hatte sie mit Blei gefaßt und zu Scheiben zusammengesetzt. Sie ruhte auf dem Bett, einem großen, vergoldeten und mit Brokat verhüllten Ding, und hatte sich den Schleier übers Gesicht gezogen. Neben dem Bett, in der Nähe eines runden, mit einem kunstvoll gewebten Damasttuch bedeckten Tischchens, saß noch eine ausländische Gesellschafterin, schöner gekleidet als eine Königin, und las ihr aus einem Stundenbuch vor. Ach, war das ein prächtiges Buch! Der Einband mit Juwelen besetzt und innen lauter merkwürdige, bunte Bilder und Vergoldungen. Frauen, die lesen konnte! O, von ganzem Herzen wünschte ich mir, ich dürfte das Buch anfassen und seine wunderschönen Seiten betrachten.
    Auf dem Tisch stand eine Messingschale mit den ersten Frühlingsblumen und daneben ein Rauchgefäß, aus dem es noch lieblicher duftete als Weihrauch in der Kirche. Aber ich habe Euch noch nicht erzählt, was das Beste an dem Zimmer war. Um den harten Steinfußboden weicher und wärmer zu machen, lagen dort keine verfilzten, schmutzigen Binsen ausgebreitet. Stattdessen war er peinlichst sauber gefegt und mit einem riesigen, dicken Teppich mit einem eingewebten Muster aus märchenhaften Ungeheuern und Pflanzen bedeckt. »Wenn ich reich wäre«, dachte ich bei mir, »ich würde nie wieder Binsen nehmen – bloß noch Teppiche wie der da.«
    Aber ich muß Euch von der Dame erzählen. Ihr Arzt stand neben ihr, ein Ausländer in einem langen, dunklen Gewand und einer komischen, schwarzen Kappe, mit schwarzem Haar und einem gesträubten, schwarzen Schnurrbart. Wortlos hob sie den Schleier. Die dunklen Augen der Dame waren hübsch, aber das war auch alles. Das Gesicht hätte einem aussätzigen Bettler auf der Straße gehören können. Ich fuhr ein wenig zurück.
    »Hat sie den Aussatz?« fragte ich ihren Arzt.
    »Nein, keinen Aussatz, aber etwas anderes.« Er sprach mit einem starken Akzent. Dann redete er Latein. Das tun sie alle. Ich ließ mir heißes Wasser bringen und machte einen Aufguß aus lieblich duftenden Kräutern, wrang ein Tuch darin aus und tat es ihr aufs Gesicht. Alsdann versetzte ich mich schweigend in die bewußte Geistesverfassung und legte meine Hände auf das Tuch. Vielleicht klappte es schneller ohne das Tuch, aber wie ich schon gesagt habe, ich bin feige und fasse nicht gern eklige Sachen an, wenn es sich vermeiden läßt. Wir nahmen das Tuch ab. Die Pusteln schwärten nicht mehr, und die Haut sah auch nicht mehr so entzündet aus. Die Dame meinte, es täte nicht mehr so weh. Ihre Gesellschafterin hielt ihr einen polierten Bronzespiegel vors Gesicht. Sie wirkte mitgenommen, aber beglückt. Die Gesellschafterin sagte:
    »Sie findet, es sieht schon besser aus. Ob Ihr es noch einmal versucht?«
    »Sagt ihr, heute noch einmal und dann nächste Woche wieder. Es braucht seine Zeit, bis alles abgeheilt ist. Sie muß den Schleier ablegen, damit Luft daran kann, und sie muß das

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