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Die Stimme

Titel: Die Stimme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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einen Seemann.
    »Ich will aber keinen Mann, der nie zuhause ist!« sagte das Mädchen und brach in Tränen aus.
    »Bess, nimm dir das doch nicht zu Herzen. Im nächsten Jahr hörst du etwas ganz anderes, und dann kannst du wählen, was dir mehr zusagt«, beschwichtigte Margaret und setzte hinzu, »außerdem hat man mir einmal geweissagt, ich würde hoch zu Roß entführt und geheiratet, und das stimmt, wie du sehen kannst, nun weiß Gott nicht.«
    Doch Margaret saß nicht nur untätig herum und sah den Spielenden zu, sie hatte ihren eigenen Schatz an Geschichten, den Restbestand aus der Zeit ihrer Wanderschaft, der selbst ihren weitläufigen Ehemann erstaunte. An jenem Abend erzählte sie die Geschichte, wie der Teufel als Kleriker verkleidet Lieblingssekretär des Erzbischofs wurde, bis er am Heiligabend seine Macht auf die peinlichste und vergnüglichste Weise einbüßte. Und so verging allen der Abend bei fröhlichem Liedersingen und Geschichtenerzählen.
    Am ersten Weihnachtstag wurde nach der Messe im Haus der Kendalls wirklich Ernst mit dem Feiern gemacht. Fässer mit Wein und Ale wurden hereingebracht, damit man die vielen Gänge des Weihnachtsessens hinunterspülen konnte. Neben der ›Familie‹, die an sich schon groß genug war, gedachten die Kendalls ihrer Christenpflicht und baten gewisse Witwen und vom Unglück Betroffene aus der Nachbarschaft zu Tisch. Doch gerade die Gäste, welche Margaret eingeladen hatten, trugen am meisten zu ihrer Weihnachtsfreude bei.
    Von all ihren alten Freunden hatte nur Hilde die ganze Zeit über auf Besuch kommen können, und daß noch heimlich – durch die Hintertür. Aber jetzt waren Hilde, Malachi, Sim, Peter und Hob da und gar prächtig anzusehen in den neuen Kleidern, die Margaret ihnen geschenkt hatte. Je mehr das Andenken an ihren Skandal verblaßte, desto weniger Angst hatte sie, daß sie unbeabsichtigt das Augenmerk der Kirchenbehörden auf Bruder Malachis ruchlose Unternehmungen lenkte; und mittlerweile fühlte sie sich endlich so rundum sicher, daß sie ihre Freunde mit Aufmerksamkeiten überschütten konnte, was schon immer ihr sehnlichster Wunsch gewesen war. Dieses Weihnachtsfest war ihr erstes öffentliches Zusammensein mit ihnen, und wie sie so mit ihrem Mann am Kopfende des Tisches saß, konnte jeder sehen, daß ihr Gesicht vor Glück nur so strahlte.
    Sim und Peter saßen am niedrigeren Tisch unter den Lehrbuben, wo Sim, der immer aufpassen mußte, daß Peter beim Essen nicht etwas in die falsche Kehle geriet, den vertrauensseligen Jungen eine Geschichte zum Besten gab, die ihm plötzlich während des ersten Gangs eingefallen war. Peter, so behauptete er mit dramatischen Gesten, war einst haargenauso wie sie geformt gewesen, bis ihn eine Feenkönigin ›verhext‹ hatte, die er zufällig beim heimlichen Baden im Wald überrascht hatte. Am Haupttisch erklärte Malachi – heute im dunklen Gelehrtenhabit ohne die geringste angesengte Stelle oder ein Loch – Lionels ›Braut‹, wie ungemein dekadent doch die neue französische Mode sei, und die hing nur so an seinen Lippen. Sie war derart bezaubert, daß sie sogar vergaß, die Blicke neidisch im Zimmer umherwandern zu lassen und abzuschätzen, welches Möbelstück sie wohl nach dem Tod von Lionels Vater haben wollte.
    Selbst die beiden Söhne Kendalls schienen zum heiligen Fest in sich gegangen zu sein, und Margaret glaubte, daß sie endlich die Versöhnung zustandegebracht hätte, um die sie solange gebetet hatte. Beide, Lionel und Thomas, hatten ihre Einladung höflich angenommen und kamen ihrem Vater jetzt so rücksichts- und achtungsvoll entgegen, daß ihm warm ums Herz wurde. Sie entwickelten sogar Pläne, zusammen ein eigenes Handelskontor zu eröffnen und sich zu läutern, wenn er nur dazu bereit wäre, ihnen unter die Arme zu greifen.
    Am fröhlichsten aber war der Haushaltsvorstand, der gebratenen Schwan mit großen Schlucken Met hinunterspülte, während er eine Geschichte von seinen Abenteuern in Italien erzählte, die ihn an einem längst vergangenen Weihnachten leibhaftig nach Rom geführt hatten. Margaret legte ihm die Hand auf den Arm und wollte ihn mahnen, seiner Gicht zuliebe vorsichtig zu sein, doch schließlich ist nur einmal im Jahr Weihnachten. Er lächelte nachsichtig, während er sich für einen neuen Trinkspruch nachschenkte.
    Als die Gäste dann fort waren, ging es Roger Kendall sehr schlecht. Die Diener mußten ihn nach oben tragen und aufs Bett legen, und Margaret zog ihm Schuh

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