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Die Stimme

Titel: Die Stimme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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erschließen.
    Roger Kendall war sehr zufrieden mit sich, als er den Ausdruck auf Margarets Gesicht sah. Es war eine Lust, sie glücklich zu machen. Und es auf diese Weise zu machen, bereitete ihm eine sehr komplexe Freude, so, wie er sie am liebsten hatte, denn schlichte Freuden ödeten ihn schon seit langer Zeit an. Als ihm die Idee gekommen war, hatte sie ihn noch tagelang danach glücklich gestimmt. Die Psalmen – wie abgenutzt sie doch vom ausgiebigen Gebrauch waren: Nummer einundfünfzig, die ›Halsverse‹; wenn man die ersten Zeilen lesen konnte, dann löste der weltliche Henker die Schlinge und übergab einen der weniger schlimmen Gerichtsbarkeit der Kirche, weil man dann als Kleriker galt. Schurken, die nicht lesen konnten, lernten diese Zeilen auswendig, um der Bestrafung zu entgehen. Die sieben Bußpsalmen: Ketzer, die widerrufen hatten, mußten sie täglich zur Strafe herbeten – eine der zahlreichen Strafen –, die Lippen bewegten sich, während das Herz noch aufsässig war. Manchmal forderte man von dem reuigen Sünder gleich den ganzen Psalter. Und dann gab es noch die gelehrten Doctores, welche jede Zeile auf der Suche nach Beweismaterial dafür, wie die natürliche Welt erschaffen wurde, zerbrachen, wo doch das Buch der Natur neu und ungelesen vor ihnen aufgeschlagen lag. O ja, die Psalter waren ein abgegriffener Buchstabenhaufen, den die Schreiber durcheinandergeworfen hatten. Doch nicht dieser Psalter. Da stand Margaret, hielt das Buch in der Hand, und auf ihrem Gesicht lag der gleiche Ausdruck wie an jenem Tag, als ihr einer seiner Kapitäne ein Kästchen türkische Rosenwasserbonbons mitgebracht hatte. Sie erinnerte Kendall an seine eigene Jugend, als er jene Verse auch geliebt hatte.
    Natürlich durfte sie das Buch nicht haben. Sie ahnte ja nichts von jenem Kirchengesetz, welches den Besitz einer Übersetzung der Heiligen Schrift in einer Volkssprache verbot. Selbst eine Nonne im Kloster hätte wohl kaum die Erlaubnis dazu erhalten, und Margaret war in Kendalls Augen wirklich weit davon entfernt, eine Nonne im Kloster zu sein. Ein heimliches Lächeln huschte kurz über sein Gesicht, so sehr freute er sich. Was für ein Spaß, den kirchlichen Institutionen eins auszuwischen! Er hatte sie einst gewogen, sie zu leicht befunden und sich angepaßt. Aber Margaret – die wischte ihnen allein schon dadurch eins aus, daß sie Atem schöpfte, doch sie schien es nicht zu würdigen. Vielleicht mußte sie erst älter werden, so wie er, daß sie es mit Humor nahm. Ihre Streiche waren für Kendall eine ständige Quelle des Vergnügens, und als er sah, wie sie die Seiten umblätterte, erfüllte ihn eine Art sardonische Freude, die er in vollen Zügen genoß. Und wie rasch und widerstandslos sich auch Bruder Gregory, dieser aufmüpfige Halunke, hatte hineinziehen lassen. Es freute ihn, daß er Menschen selbst nach so kurzer Bekanntschaft immer noch durchschauen konnte.
    Margaret schlug das Buch auf und glättete die Seite mit einer Hand, die vor Vorfreude zitterte. Sie fing an, laut vorzulesen:

»Die Himmel erzählen die Ehre Gottes,
    und die Feste verkündiget seiner Hände Werk…«

    Sie wußte sich vor Freude nicht zu lassen. Doch beim Lesen bemerkte sie, daß ihr die Handschrift des Kopisten sehr bekannt vorkam. Als Margaret mit Lesen aufhörte, da wußte sie auch warum. Es war Bruder Gregorys Handschrift. Sie mußte insgeheim bei dem Gedanken lächeln.
    »Das sind mir Brüder, einer nicht besser als der andere. Vermutlich hat er für den Kopisten mehr verlangt und das Geld dann selbst eingesteckt. Schön zu wissen, daß er am Ende auch nur ein Mensch ist.«
    Master Kendall blickte ihr über die Schulter. Auch er hatte Bruder Gregorys Handschrift erkannt und lächelte. Der Verdacht war ihm schon gekommen, daß dieser alles allein gemacht haben könnte, nur um sowohl das Honorar für den Kopisten als auch das für den Übersetzer einzustreichen, dazu noch die Vermittlungsgebühr fürs Erledigen. Genau das hatte er sich davon versprochen, und es freute ihn, denn er hatte Bruder Gregory zu Weihnachten etwas schenken wollen, wußte aber, daß dieser zu stolz war, ein direktes Geschenk anzunehmen.
    »Gefällt es dir, Margaret?« fragte er und wußte doch die Antwort im voraus.
    »Ich werde es nie aus der Hand geben«, sagte Margaret und legte ihre Hand auf seine. »Hoffentlich nimmst du es einmal zur Hand, wenn du ganz, ganz alt bist und erinnerst dich dann, wie sehr ich dich geliebt habe.«
    »Du meinst,

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