Die Stimme
härene Gewand und die Disziplin, seine Geißel, enthielt, starrte er die ganze Nacht in die Schatten des strohgedeckten Hauses und tat kein Auge zu, obwohl er den Schlaf bitter nötig hatte. Noch zwei Tage Wanderung lagen vor ihm, ehe er zu Weihnachten das Haus seines Vaters erreicht hätte.
Das eintausenddreihundertfünfundfünfzigste Jahr des Herrn ging mit Macht dem Ende zu. In Roger Kendalls hohem Haus in der Thames Street weihnachtete es. Der Himmel war bleiern, und ein kalter Wind vom Fluß verhieß Schnee. Große Eisschollen verstopften den Hafen, obwohl der Fluß immer noch eisfrei zwischen den Brückenpfeilern hindurchschoß. Auf den Straßen der City herrschte reges Leben und Treiben, die Schlachterstände machten gute Geschäfte, und in Cornhill und am Cheap wimmelte es von Straßenverkäufern aller Arten. Hinter den geschlossenen Läden der Armen und den verglasten Fenstern der Reichen brannten Kerzen, Binsenlichter und Fackeln, und auf jeder Straße konnte man Essensdüfte riechen. Denn Weihnachten war eine ganze Jahreszeit: nicht nur ein einziger Festtag, sondern eine lange Abfolge von Festlichkeiten, von den letzten Tagen im Advent bis nach Epiphanias.
Das Haus der Kendalls strahlte vom Licht der Kerzen und der brennenden Feuer in jedem Kamin. Selbst die gemalte Seeschlange im Wappen über dem Kaminsims lächelte durch eine leichte Rußschicht auf die hin- und hereilenden Gestalten in der großen Diele herab, die alles für Weihnachten richteten. Jedes Mitglied des Haushalts hatte zahllose Aufgaben zu bewältigen. Allein schon die Fleischkuchen für Weihnachten erforderten zwei Tage zur Fertigstellung. Gänse, Schwäne, Kapaune, ein Pfau, Rind, Lamm und Schwein mußten auf ein Dutzend verschiedene Arten zubereitet werden, einige wurden in Schüsseln serviert, mit Gewürzen im Mörser zerstoßen, andere als Schaugerichte im Federkleid auf kunstvoll geformten Unterlagen aus Teig angerichtet. Da gab es Kuchen, Sülzen, Puddinge und nicht weniger als zwei aufwendige Zwischengerichte, eins hinter jedem Hauptgang. Eine dieser kunstvollen Essenskreationen aus Teig und Farbe war wie ein Schiff geformt, die andere war eine Darstellung von Engeln, welche drei Hirten auf dem Felde erschienen, das Ganze komplett mit Schafen. Es gab mehrere Sorten Wein, Ale und Met; um diese Jahreszeit erreichte der gewöhnliche Trinkpegel wohl die Hochwassermarke.
Jeder im Haus half bei dessen Ausschmückung, stand auf Leitern und befestigte Efeugirlanden und Bündel von Immergrünzweigen an den Dachbalken der großen Diele. In jedem Zimmer duftete es frisch nach Mistel- und Stechpalmenzweigen. Ein richtiges Weihnachtsfest war nichts für Schwächlinge; das Marathon von Essen, Liedersingen, Tanzen und Kirchgängen erforderte einen ganzen Vorrat an Schwung und aufgestauter Begeisterung, alles, was sich im Laufe eines harten und unbarmherzigen Herbstes und Winters angesammelt hatte. Margaret sauste durch die Gegend, kümmerte sich um die Ausschmückung, das Essen und Kendalls Weihnachtsgeschenke an die Armen und seinen eigenen Haushalt. Dazu kamen noch über ganz London die Maskenfeste und Abendessen in den Häusern von Bekannten und Geschäftsfreunden, die sie zusammen mit ihm besuchte. In ihrem eigenen Haus herrschte Chaos, über das der Geselle wachte, der am meisten zu Streichen aufgelegt und zum Wilden Mann bestellt war, daß er die Spiele vorbereitete.
Heiligabend schleiften Lehrlinge und Gesellen einen riesigen Julsack herein, und Alison, die Kleinste der Familie, ritt darauf wie auf einem Pony und jubelte und fuchtelte mit den Armen, während ihre ältere Schwester Cecily folgte und vor Freude kreischte und hüpfte. Die Jugend ging aus zu Liedersingen und Tanz, zunächst vor der Haustür ihres Meisters und dann durch die Straßen bis hin zum Friedhof, wo der Auflauf von festfrohen Menschen, Musikanten und Strolchen ganz gewiß die Priester störte, welche sich auf die Mitternachtsmesse vorbereiteten.
Wer zuhause blieb, saß mit einem Getränk am Feuer; man erzählte sich himmelschreiende Geschichten und sagte die Zukunft voraus, denn gerade in dieser Nacht versuchen Mädchen herauszubekommen, wie ihr künftiger Ehemann aussieht. Als Mädchen hatte Margaret Freude an diesen Spielen gehabt, ihnen aber nie Glauben geschenkt, weil niemals etwas eingetroffen war; ihr Leben war ganz anders verlaufen. Jetzt mußte sie eine ihrer Mägde trösten, der man zu ihrem Kummer weissagte, sie würde sechsmal heiraten und jedes Mal
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