Die Stimme
letzten Mal darauf legte. Sie umschloß seine eiskalten Wangen mit ihren Händen und blickte ihm ins eingesunkene Antlitz. Sie flüsterte:
»Wenn du mich doch nur mitgenommen hättest«, während sie sich langsam vorbeugte und ihn zum letzten Mal küßte. Dann saß sie ganz zusammengekauert und tränenblind in einer Ecke beim Feuer, während die Mönche die Arbeit beendeten. Sie wachte die ganze Nacht beim Schein der Kerzen rings um den Sarg. Ihr Hirn wollte es nicht fassen, daß er ohne Absolution gestorben war, das machte ihr furchtbar zu schaffen; und wenn sie einen Augenblick nicht an ihren entsetzlichen Verlust dachte, dann schrie sie insgeheim zu Gott, daß er ihn auch ohne Absolution erlöste. Nie und nimmer würde sie aufhören, Gott damit in den Ohren zu liegen, bis Er ihr sagte, daß ihr Roger Kendall erlöst sei. Sie würde sich an den Saum Seines Gewandes klammern und weinen und schreien, bis Er ihn erlöste, ob er nun wollte oder nicht, und wenn auch nur, um diese Plage loszuwerden. Sie würde zu Jesus und allen Heiligen beten, bis sie alle wie ein Mann aufstanden und Gott anflehten, sie ihnen vom Hals zu schaffen, indem er nachgab. Am Morgen fand man sie dort am Sarg mit einem glasigen und eigenartig entschlossenen Blick, aber immer noch wach.
Roger Kendall war alt und sehr beliebt gewesen. An der schwarzumflorten Tür mit dem Priester standen alle Mitglieder der Tuchhändlerzunft, um dem Leichnam das Geleit zu geben. Als der Sarg das Haus verließ, setzte die größte Glocke von St. Botolphe Billingsgate mit dem Trauergeläut ein. Ihr klagender Klang folgte der Prozession, die Kendall die letzte Ehre erwies, durch die gewundenen Straßen. Voran schritten seine Zunftbrüder, dann der Kreuzträger; hinter dem Kreuz ging paarweise die Geistlichkeit mit brennenden Kerzen in der Hand. Vor dem Sarg schritt einsam und allein der Gemeindepfarrer; zu beiden Seiten der Sargträger gingen Männer mit brennenden Kerzen. Margaret folgte dem Sarg wie von Sinnen und gestützt von Hilde. Neben ihr gingen ihre beiden Töchter mit roten, verweinten Augen, und klammerten sich an ihre Röcke. Danach kamen die Söhne des Toten in tiefstem Schwarz und nach außen hin furchtbar betrübt. Es folgte sein Haushalt und alle, die ihn geliebt hatten, und sie schrien und stöhnten und wehklagten, wie es Brauch war.
Irgendwie bewahrte Margaret während des Gottesdienstes Haltung, nachdem man Kendalls Leichnam zu Requiem und Absolution vor dem Altar abgesetzt hatte. Doch als die Sargträger ihre Last wieder aufnehmen und der Kantor den uralten Gesang anstimmte: »Send mir dein Engelein, führ mich ins ewig Leben«, da erblickten alle, welche Margaret dem Sarg folgen sahen, wie sich ihr Mund zu einem lautlosen Schmerzensschrei öffnete, der viel fürchterlicher war als alle Tränen.
Auf eine Beerdigung folgt Essen und Trinken, doch das merkte und an das erinnerte sich Margaret nicht mehr. Sie war eine Zeitlang völlig von Sinnen. Hilde rief nach Bruder Malachi und vielen ihrer Freunde, denn Margaret war weitaus beliebter, als sie überhaupt ahnte. Grüppchenweise saßen sie bei ihr und ließen sie weder bei Tag noch bei Nacht allein und versuchten, sie zum Reden oder Essen zu bewegen. Man setzte ihr die Kinder auf den Schoß, doch sie sah sie nicht. Schon mußte das Haus befürchten, daß es nicht mehr lange dauerte, und man hatte auch die Herrin verloren, was so traurig war, daß man es kaum ertragen konnte.
Als Bruder Malachi dann eines Tages mit gesenktem Kopf und auf dem Rücken verschränkten Händen durch den Schneematsch in Cheapside stapfte und sich fragte, was man noch tun könne, da hörte er vertraute Laute. Zum Dröhnen der Trommel trugen zwei wohlbekannte Stimmen den Disput zwischen Winter und Sommer vor. Dieses Mal schnitt der Sommer schlecht ab, kein Wunder auch bei dieser Jahreszeit. Das konnte niemand so gut wie Maistre Robert le Tambourer. Malachi wartete im Hintergrund, bis das Geld wohlbehalten eingesammelt war, dann begrüßte er Master Robert.
»Seid mir gegrüßt, Master Robert!« empfing er seinen alten Freund von der Wanderschaft. »Heute brauche ich Eure Hilfe ganz dringend – nur Ihr, ein leibhaftiger Meister, könnt mir noch helfen. Eure alte Freundin Margaret ist frisch verwitwet und vor Gram ganz von Sinnen. Könnt Ihr kommen, und sie uns zuliebe wieder gesundmachen?«
»Ei der Daus, alter Freund! Was für eine Überraschung, Euch hier zu sehen!« rief Master Robert jovial. »Das tut mir aber
Weitere Kostenlose Bücher