Die Stimme
Ich drehte den Kopf weg.
»Nur einen Kuß. Ich habe gesehen, wie du Richard Dale geküßt hast. Du bist gar nicht so rein. Gib mir einen. Den schuldest du mir.«
Jetzt erkannte ich die Stimme.
»Vater! Laß mich los!«
»Den schuldest du mir, den schuldest du mir, du fromme, kleine Ziege. Du Zimperliese. Du Pharisäerin. Ewig dieses Weihwasser. Ich habe dich viele Jahre ernährt, ich habe dich aufgezogen. Mein Essen hast du gegessen…« Er war furchtbar betrunken. Aus einem Auge rollte ihm eine Träne. »Und dann will sie ihrem Vater keinen Kuß geben, nicht einen kleinen Kuß hat sie für ihren Vater – aber viele für alle anderen…« Mit einer Hand quetschte er mich, und während er mich mit seinem vollen Gewicht gegen die Wand drückte, fuhr er mir mit der anderen unter den Rock.
»Um Christi Liebe willen, Vater, laß los. Hör auf!«
»Liebe, ja, du sagst es, Liebe – die schuldest du mir.« Sein Atem roch säuerlich nach Ale.
»Das hier schulde ich dir nicht! Nein, das nicht! Es schickt sich nicht! Gott will es nicht!«
»Natürlich schickt es sich. Viele Männer tun es. Wer kann ein Mädchen am besten anlernen? Ihr Vater, ja, der! Der Müller hat es getan. Denn wenn der Vater es nicht tut, dann der Lehnsherr in der Hochzeitsnacht…« Immer dieser Müller! Warum mußte alles immer mit dem Müller anfangen?
»Es stimmt nicht, nein, nein! Heutzutage nicht mehr! Nicht hier! Nicht mit mir, nie und nimmer! Laß mich los!« Mein verzweifeltes Wehren nützte mir nichts. Er war viel schwerer als ich.
»Hände weg von dem Mädchen, auf der Stelle!« Die Stimme einer Frau in der Dunkelheit, und mit einem ›peng‹ krachte Vater eine schwere, eiserne Bratpfanne auf den Kopf, und er ging bewußtlos zu Boden.
»O Mutter, Mutter!« weinte ich.
»Der alte Bock springt aber auch auf alles, was sich bewegt«, bemerkte sie mit kalter Stimme und blickte auf seine reglose Gestalt. »Ich habe mich schon gefragt, wann es passieren würde. Ich habe nämlich seine Augen gesehen. Du bist zu schön. Du führst die Männer, ohne es zu wissen, in Versuchung. Es wird Zeit, daß man dich verheiratet, Mädchen, und je eher, desto besser.«
»Ich – möchte nicht heiraten, Mutter. Männer sind gräßlich.«
»Gräßlich oder nicht, verheiratet bist du besser dran. Vor allem mit einem starken Mann. Sonst bist du vor niemand sicher, bis du so alt und häßlich bist wie ich.«
»Ich kann nicht heiraten, nicht jetzt – ich kann's einfach nicht.«
»Gut, du hast ja deinen Richard Dale, wenn du so dumm bist, ihn zu heiraten. Wenn du's tust, so ist das der Anfang zu einem Leben in Sünde und Verderben.«
»Vielleicht – vielleicht bessert er sich ja«, gab ich matt zurück.
»Bessern sich etwa Schlangen? Bessern sich Wölfe? Schürzenjäger bessern sich nicht.« Mutter schniefte und warf Vater einen Blick zu.
»Eins mußt du noch bedenken«, sagte Mutter mit harter Stimme. »Richard Dale ist eine schlechte Partie, selbst wenn er ein Heiliger wäre. Der Besitz seines Vaters ist klein, und seine Mutter ist eine Leibeigene. Es ist fraglich, ob deine Kinder dann Freigeborene wären.«
Soviel kühle Logik hätte ich Mutter nie zugetraut. Aber ich hatte sie ja auch noch nie überschlagen hören, was man durch eine Heirat gewinnen konnte.
»Ich finde einen passenden Mann. Ich habe Vettern in St. Matthew's.«
»Ich will aber keinen Mann aus St. Matthew's.«
»Junges Fräulein, du mußt nehmen, was du kriegst, wenn du aus diesem Dorf weg willst. Sonst bringt dich dein Vater zur Strecke, und du bist erledigt. Ist dir das noch nicht aufgegangen?«
Es stimmte. Die einzigen Männer, die es an Kraft mit Vater aufnehmen konnten, waren meine großen Brüder. Und auch die würden, und wenn sie sonst noch so wild waren, nie die Hand gegen Vater erheben. Den Willen seines Vaters nicht zu ehren, das wäre eine Todsünde. Und wir alle wußten, daß der Wille eines Vaters Gesetz war wie der des Königs, denn das hatte Gott selbst so eingesetzt. Sie würden es nie riskieren, daß ein ganzes Dorf sie mied und alle anständigen Menschen sie verfemten, nur weil sie etwas so Nichtiges wie die Ehre einer Schwester verteidigt hatten. Und Vater? Heute ist mir klar, daß er dafür nicht einmal in der Hölle gebrannt hätte. Ich weiß inzwischen Bescheid, Ablaßbriefe für Blutschande kommen Männer dieser Tage nicht teuer zu stehen.
»Aber, aber kann Hochwürden Ambrose ihn nicht daran hindern?«
Mutter warf den Kopf zurück und lachte
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