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Die Stimme

Titel: Die Stimme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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Margaret.«
    »Aber was tun sie, wenn sie einen Pfarrverweser angestellt haben, der für sie die Messe liest?«
    »Sie nehmen die Pfründe der Stelle und ziehen vermutlich irgendwo hin, wo es ihnen besser gefällt.«
    »Ja, wenn das nicht sehr merkwürdig ist! Ich hätte gedacht, es gibt nichts Schöneres, als Priester zu sein und Seelen vor dem Teufel zu erretten? Aber das scheint mir sehr kompliziert.«
    »Ist es auch, Margaret, ist es auch, ich lerne das auch erst allmählich.« Jetzt waren wir beinahe zu Haus.
    »Aber sag doch, was für Sachen wirst du auf der Universität lernen?«
    »Also, noch mehr Latein und andere Sprachen – das nennt sich Grammatik –, und wie man gut redet und disputiert – das ist Dialektik – und Mathematik, Theologie – solche Sachen eben.«
    »Und was ist Mathematik?«
    »Also, das ist – das ist – also, das ist auch sehr kompliziert und schwer zu erklären.« Das muß auch kompliziert sein, dachte ich, wenn es nicht einmal David versteht, der doch so gut in der Schule ist.
    »O David, du bist so furchtbar klug, gewiß bekommst du eine Stelle. Du gehörst an eine große Kathedrale, die größte auf der ganzen Welt.«
    »Ja, Schwester, ich will tüchtig lernen und nehmen, was ich bekomme. Ein bißchen Glück habe ich dabei allerdings.«
    »Und was?«
    »Der Abt will mir wohl. Er hat mich zu sich bestellt und mir erklärt: Wenn ich begabt bin und hart arbeite, dann hilft er mir bei der Stellensuche. Das macht er für Jungen, denen er wohlgesonnen ist.«
    »Na, wer sagt's denn? Vielleicht kommst du doch noch als Fürst zurück«, meinte ich, als ich die Haustür aufmachte.
    In jenem Sommer gab sich David mit der Arbeit sehr viel Mühe, doch mir gegenüber nannte er die Landarbeit seine ›Strafe‹. Daher wußte ich, daß er sich zwar benahm wie früher, aber dennoch inbrünstig auf den Herbst wartete.
    Just vor Johannitag, wenn wir Feuerstöße anzünden und Flammenräder hügelabwärts rollen, erzählte Mutter mir, daß sie einen Ehemann für mich gefunden hätte. Bei diesem Gespräch jäteten wir gerade zusammen den Garten.
    »Dein Vater stimmt zu; die Partie ist gut«, sagte sie, nahm eine Raupe von den Bohnen ab und zerquetschte sie.
    »Gut? Wie denn gut?« Ich war sehr besorgt, denn ich hatte große Angst vor der Ehe.
    »Ein wohlhabender, älterer Mann, ein Pelzhändler und Witwer, hat sich nach dir erkundigt. Er hat dich beim Gerichtstag in St. Matthew's gesehen und verzehrt sich seitdem nach deiner Schönheit, so behauptet jedenfalls mein Vetter.« Jetzt knipste sie an den Pastinaken die geilen Triebe ab.
    »Wohnt er in St. Matthew's? Dann kann ich dich wenigstens besuchen.« Ich war mit den Möhren fertig und machte mich an die Zwiebeln. Der Schweiß rann mir an der Nase herunter, und ich wischte ihn mit dem Handrücken ab, wobei ich mir die Nase schmutzig machte.
    »Das ist das Schlimme daran. Er lebt ziemlich weit weg, in Northampton. Er setzt dir eine großzügige Morgengabe aus. Es wird dir an nichts fehlen: gutes Essen, gute Kleider, gute Freunde. Einem Mädchen wie dir, auch wenn es eine Schönheit ist, bietet sich nicht oft eine solche Gelegenheit.«
    »Ich möchte lieber hier wohnen, auf dem Land, bei den Menschen, die ich kenne.« Bei dem Gedanken, einsam unter Fremden leben zu müssen, wollte mir der Mut sinken.
    »Denk doch an die Annehmlichkeiten, die deine Kinder genießen werden und danke deinem Gott, daß du zu solch einer Notzeit in deinem Leben soviel Glück hast.« Mutter Annes Gesicht war wie aus Eisen gegossen.
    »Aber, aber –«
    »Kein ›aber‹ mehr. Wenn mich ein reicher Mann gesehen hätte, als ich in der Blüte meiner Schönheit stand, ich hätte nicht ›aber‹ gesagt. Ich hätte in der Stadt gelebt, jeden Luxus genossen, und meine Lippen hätten nur Loblieder gekannt. Ich hätte Gott und meine lieben Eltern gepriesen, die mir solche Annehmlichkeiten verschafft hätten. Dankbarkeit! Daran mangelt es dieser Tage den Kindern! Ja, an Dankbarkeit! Fürwahr, die junge Generation ist ungehobelt und undankbar!«
    »O Mutter, ich bin ja dankbar. Ich bin wirklich dankbar. Ich werde dir immer dankbar sein. Ja, das verspreche ich.«
    Und so sandte man dem Kaufmann, der uns so wohlhabend erschien, Nachricht und schickte sich an, eine Ehe auszuhandeln, die er offensichtlich so heiß begehrte.
    Es war schwierig, sich darüber mit David zu unterhalten. An jenem Abend redete ich mit ihm, nachdem er von seiner ›Strafe‹ heimgekehrt war und ins Feuer

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