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Die Stimme

Titel: Die Stimme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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hast!«
    »Ja, Mutter, ich will mir zu Herzen nehmen, was du gesagt hast«, versprach ich demütig. Aber wer schlägt zur Frühlingszeit nicht einen guten Rat in den Wind! Ich brachte meine Tage damit zu, von Richard Dale und unserer bald bevorstehenden Hochzeit zu träumen.
    Ich weiß, daß es anderen Mädchen ähnlich ging, denn, kaum zu glauben, aber die Küferstochter hatte sich in meinen abscheulichen älteren Bruder Will verliebt und beschäftigte sich in Gedanken mit ihm wie ich mich mit dem schönen Richard Dale. Immerzu hing sie sich jetzt an mich, denn dadurch hoffte sie, besser an ihn heranzukommen. Vergebliche Liebesmüh, sie zu warnen, daß er ein hartgesottener, herzloser Bursche war, der nur an sich selber dachte.
    »Das sagen Schwestern immer, aber ist dir denn nie das Grübchen unten an seinem Kinn aufgefallen, wo ihm jetzt der erste Bart wächst?«
    »Mary, er hat Pockennarben.«
    »Aber die sieht man doch fast gar nicht. Sie machen sein Gesicht charaktervoll.«
    »Er ist brutal – wenn er dich nun schlägt?«
    »Wie könnte er mich schlagen, mich, seinen einzigen, wahren Schatz?«
    »Mich, seine einzige, wahre Schwester, würde er schlagen, wenn er mich erwischte. Er schlägt seine eigene Mutter, wenn ihm das Abendessen nicht schmeckt. Wieso nicht auch dich?«
    »Das begreifst du einfach nicht. Er ist größer und stattlicher als alle anderen Jungen, und er hat mir ewige Treue geschworen.«
    »O Mary, geht es dir denn nicht in den Kopf, daß er schon mehr Mädchen hat sitzenlassen. Nimm dich in acht.«
    »O, wie werden wir uns lieben, wenn wir erst Schwestern sind, Margaret. Aber wie alle jüngeren Schwestern bist du auf deinen Bruder nicht gut zu sprechen. Er hat mir aber doch gesagt, daß meine Schönheit ihm das Herz gestohlen hat. Eine Schwester kennt einen Mann nie so gut, wie die Frau, die er liebt.«
    Ich betrachtete noch einmal ihr langes, reizloses Gesicht. Mary war groß und mager, hatte dunkles Haar und ein Gesicht wie ein liebenswürdiges Beil. Sie war siebzehn und schon eine alte Jungfer. Will ist ein selbstsüchtiger Schuft, dachte ich. Er wird sie bloß schwängern und sitzenlassen und noch damit aufschneiden.
    Als dann vor Ostern die Aufforderung des Königs zur Heeresfolge für einen großen Feldzug in Frankreich an die Männer in Waffen erging, da wußte ich Bescheid. Will gehörte einfach nicht zu der Sorte Mann, die häuslich wird, solange sie noch den Frauen nachstellen und eine Landplage sein kann.
    Vater schimpfte natürlich. Er wollte nicht auf Wills und Robs Hilfe verzichten. Mutter dagegen meinte, man solle es auch von der guten Seite sehen. Sie würden nicht vor dem ersten Mai ziehen, und dann wäre doch David den ganzen Sommer über da, ehe er auf die Universität ginge. Der könnte doch gut mithelfen. Und außerdem könne er von Glück sagen, daß er nicht selbst mitgehen müsse, sagte sie, denn so alt und verweichlicht wie er geworden sei, würde er die Härten des Kriegslebens nicht lange aushalten.
    »Ich ein Weichling, Weib?«
    »Aber nein, nur ein Glückspilz.«
    »Ich werd dir was zeigen, von wegen Glückspilz!« Und er schnappte sich den Schürhaken und jagte sie um die Feuerstelle und hinaus auf die Straße, wo er schon bald aus der Puste kam. Mutter ließ ihn keuchend vor dem Haus sitzen. »Der alte Trottel, seine Lungen sind hin. Nichts mehr drin als Luft, der alte Aufschneider der.« Und sie machte sich wieder an ihre Arbeit.
    Genau in der Woche vor Ostern kam ein grauer Mönch und predigte bei uns, und das war ein großes Ereignis, welches viel Aufsehen erregte. Er war ein kluger Prediger, der uns Gottes Willen viel klarer auslegte als Hochwürden Ambrose. Er sagte uns, daß Gott die Armen am meisten liebe, und alles nickte beifällig. Hochwürden Ambrose sagt, daß er die Gehorsamen am meisten liebt.
    »Warum auch nicht, denn die Gehorsamen sind nun einmal arm«, bemerkte der alte Tom, und das schien die Lösung des Problems zu sein.
    Ostern ging vorbei, und schon war der erste Mai herangekommen, der trotz allem, was Hochwürden Ambrose dagegen unternahm, ein fröhlicher Festtag ist. Ich glaube, mit zunehmendem Alter hatte er es aufgegeben, denn den ersten Mai gibt es nun einmal länger als ihn. Sein toter Vorgänger, der alte Priester, soll sogar den ersten Mai mit uns gefeiert haben, aber der hielt sich ja auch Jagdhunde und war eine ganz andere Sorte Mensch. Am ersten Mai tut sich so einiges, gemessen an der Zahl von Taufen neun Monate später; es wird

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