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Die Stimme

Titel: Die Stimme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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bitter.
    »Weißt du denn nicht, daß er dir die Schuld geben wird, weil du ihn verlockt hast und nicht ihm, daß er sich hat verlocken lassen? Bring es vor den Priester, und der macht dich für immer fertig.«
    »Was soll ich denn tun, Mutter?«
    »Verhalte dich ruhig, trage dieses kleine Messer bei dir und geh ihm aus dem Weg, wenn er betrunken ist. In allem anderen laß dich nur von deiner Mutter leiten, wie es deine Pflicht als christliche Tochter ist.«
    Mein Kopf wirbelte. Für einen einzigen Abend war es genug Wahrheit und an Ale.
    »Ja, Mutter«, sagte ich, »ich will an meine Pflicht denken und mich von dir leiten lassen.«
    Als Vater nüchtern war, schien er sich an nichts mehr zu erinnern. Aber Mutter hatte recht. Seine Augen folgten mir tatsächlich, und jetzt sah ich es und ängstigte mich. Wenn nur meine Brüder dablieben, ich hätte die Furcht wohl ausgehalten. Aber mit ihm allein zu sein, das jagte mir Angst und Schrecken ein. Manchmal streifte er mich im Vorbeigehen so nebenhin, aber durchaus nicht harmlos, oder kam mir mal eben in die Quere, vertrat mir den Weg und summte ein Liedchen, um mich anzulocken. Als die Zeit für den Aufbruch nach Frankreich gekommen war, machten sich auch meine Brüder zusammen mit dem halben Dorf auf, und wir standen am Straßenrand und weinten. Wie es um die anderen bestellt war, weiß ich nicht zu sagen, aber heute ist mir klar, daß ich um mich geweint habe. So ist es meistens, wenn man weint. Man sagt doch nur, daß es um der anderen willen ist.
    Ich kann mich noch erinnern, wie keck Rob und Will zurückwinkten, als sie mit Gottes Segen aufbrachen, um in Frankreich genau das zu tun, was Er ihnen zuhause verbot. Bis heute will es mir nicht in den Kopf, warum Gottes Gebote nicht auch für Ausländer gelten. Wenn man dazu noch bedenkt, daß Ausländer uns auch als Ausländer ansehen, dann wird es noch komplizierter. Schließlich gibt Gott beiden Parteien gleichermaßen seinen Segen, wenn man sich an das hält, was die Priester auf beiden Seiten behaupten. Mir scheint, daß Gottes Gebot dann für gar niemand gilt. Je mehr ich darüber nachdenke, desto weniger verstehe ich den Krieg. Aber vielleicht erklärt mir Gott das alles irgendwann einmal. Ich darf nicht vergessen, ihn diese Woche nach der Messe noch einmal zu fragen. Oder vielleicht besser zu Ostern. Ostern gibt Gott oftmals Antwort auf Fragen.
    Nicht lange danach, kehrte David zu seinem letzten Sommer daheim zurück. Er kam allein angewandert, seine paar Habseligkeiten trug er in einem Bündel auf dem Rücken. Er war jetzt größer als ich und war gänzlich knochig und ungelenk. Und er kam in den Stimmbruch. Aber er hatte immer noch den schwarzen Lockenschopf und die ernsten, blauen Augen, auch wenn sie jetzt hoch oben in einem mir fremden Leib saßen, der einer Vogelscheuche glich.
    Ich hatte den ganzen Tag auf ihn gewartet, denn ich wollte ihn als erste begrüßen, und so lief ich ihm denn auf der Landstraße entgegen. Doch er schien nicht mehr der Alte zu sein, so still war er.
    »Was für eine feierliche Stimme! Und keine Umarmung?« fragte ich ihn.
    »Entschuldige, Margaret, das kommt davon, daß ich so ganz anders gelebt habe.« Er nahm mich hölzern in die Arme, und ich legte den Kopf an seine Schulter. Sanft machte sich David los. Er war verändert, aber ich kam nicht ganz dahinter, wie.
    »Und du wirst noch besser leben, viel besser, David! Denk nur, Vater hat zu Mutter gesagt, daß du ein Fürst wirst, wenn du auf der Universität studierst! Kann man das da wirklich werden?«
    »Vater weiß nicht so recht Bescheid, Margaret. Aber er kennt sich ja auch in vielem nicht aus.«
    »Aber du lernst doch ganz, ganz viel und wirst etwas ganz Prächtiges, ja?« Wir hatten uns umgedreht und gingen jetzt auf der Straße nach Haus.
    »Ich weiß es nicht. Ich werde Priester, vielleicht auch Lehrer, wenn ich gut genug bin. Einige Jungen bekommen schöne Stellungen, aber die sind auch reich und stammen aus vornehmen Familien. Soviel darf ich für mich wohl nicht erwarten.« Ich nahm seine Hand. Dieses Mal vergaß er, sie mir zu entziehen.
    »Aber du könntest doch wie Hochwürden Ambrose werden und Gutes tun.«
    »Ja, das heißt, wenn ich eine Pfarre bekomme. Ich müßte womöglich die Pfarre für jemanden verwesen, der eine gute Stelle hat. Dann würde ich aber nicht sehr viel verdienen.«
    »Soll das heißen, daß Priester sich Pfarrverweser nehmen wie reiche Männer Stellvertreter für die Heeresfolge?«
    »Genau,

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