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Die Stimme

Titel: Die Stimme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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starrte.
    »Du hast Vater und Mutter gehört? Man will mich verheiraten.«
    »Ich hab's gehört«, sagte er verdrießlich.
    »Er soll sehr vornehm sein.«
    »Nicht vornehm genug«, sagte David.
    »Werde ich dir fehlen, David, wenn ich erst eine verheiratete Frau bin und du ein Lehrer?«
    »Das ist eine dumme Frage, Margaret.« David starrte mißmutig in die glühende Holzkohle.
    »Ich bin aber traurig, David, aber vielleicht können wir einander besuchen?«
    »Das ist auch dumm, Margaret. Dieses Mal scheiden wir für immer. Und wenn wir uns je im Leben wiedersehen, dann sind wir nicht mehr dieselben. Ganz und gar anders.«
    »Bin ich dann zu reich für dich, David? Ist es das?«
    »Ach, Margaret, für dich ist nichts zu gut! Ich bin nicht eifersüchtig. Das ist es nicht. Es ist nur, daß ich anders sein werde. Ich bin jetzt schon anders. Die ganze Zeit über verändere ich mich. Ich kann nicht mehr mit Vater und Mutter reden. Ich kann nicht mehr mit meinen alten Freunden reden. Vielleicht kann ich eines Tages auch nicht mehr mit dir reden.« Er legte das Kinn auf die Faust und brütete stumm vor sich hin.
    »Aber David, auch wenn du hochgestellter bist, könnten wir uns dann nicht trotzdem lieben?« fragte ich leise.
    »Das ist – das ist eben schwer zu erklären.« Er sah verwirrt und besorgt aus. »Es ist nämlich schwer, sich nicht anders vorzukommen, wenn man mit niemandem mehr reden kann.«
    Mir war etwas eingefallen.
    »Du, David, siehst du dort in der Abtei noch Engel?«
    »Nicht gerade viele – nein, das ist nicht wahr. Derzeit sehe ich gar keine mehr.« Als David Abschied nahm, war es, als ob er gestorben wäre. Ich spürte, ich würde ihn nie mehr wiedersehen.
    Doch der Verlust von David war nur die erste aller Sorgen.
    Eine Sorge kommt selten allein, glaube ich. Zunächst ist es nur eine, dann noch eine, zwei kleine, und dann eine ganze Schar. Wenn man nur wüßte, wie man die erste davon abhalten könnte, sich durch die Tür zu zwängen, dann könnten sich die übrigen nicht Eintritt ins Haus verschaffen. So sehe ich das jedenfalls. Aber damals wußte ich das nicht. Ich war jung und dachte, es würde sich schon alles zum Besten wenden.
    Nicht lange danach traf mein Freier auf einem weißen Maulesel und in Begleitung von Dienern ein, die Geschenke trugen. Er erregte einiges Aufsehen, als er durchs Dorf ritt. Obwohl er alt war – schon dreißig –, hatte er sich ein merkwürdig jugendliches Aussehen bewahrt. Seine modische, enganliegende, scharlachrote Bruch brachte seine muskulösen Beine beim Reiten vorteilhaft zur Geltung, und die elegante rote, silbern durchwirkte Schärpe an der Pelerine hatte er sich so um den Kopf gelegt, daß sie sein sorgsam gelocktes Haar und sein ebenmäßiges Profil betonte. Seinem Aussehen tat kaum etwas Abbruch: eine Andeutung von Falten auf der Stirn vielleicht und ein kräftiges, eher kantiges Kinn, an dem gemessen seine hellblauen Augen ein wenig zu klein wirkten. Aber seine Kleidung blendete nun wirklich alle: er war eine wandelnde Anpreisung seines Gewerbes. Ein pelzverbrämter Hut, pelzverbrämte Ärmel und Pelzwerk um seinen Hals herum. Darüber ein besticktes, pelzgefüttertes Obergewand, das um die Mitte von einem silberbeschlagenen Gürtel zusammengehalten wurde, an dem sein langes Messer hing. Seine Finger glitzerten von Gold, und an den Füßen trug er schöne Schnabelschuhe aus Saffianleder, oben pelzverbrämt, deren Schnäbel ihm beim Reiten elegant-nachlässig aus den Steigbügeln hingen. Aber ich stand vor dem Haus und starrte ihn an, und die Kunkel entfiel meiner Hand, und der Atem wollte mir stocken. Es war der Kaufmann mit dem Herzen aus Eis, den ich auf dem Gerichtstag des Abtes gesehen hatte.

    Bruder Gregory hielt die Finger hoch und wackelte damit, bis die Gelenke knackten. Dann wand er sich hin und her, bis sein Rücken sich entkrampft hatte, und seufzte. Zum Aussteigen war es offensichtlich zu spät. Er wußte nicht, ob er nun seinem Magen die Schuld daran geben sollte, daß er sich auf die Sache eingelassen hatte, oder seiner Neugier , die ihn weiter gelockt hatte, als er ›genug!‹ hätte sagen müssen. Kann sein, daß ihn auch seine Ehre davon abhielt, einen schlechten Handel zur rechten Zeit zu verwerfen. Damit hätte er es sich erspart, ein Kompendium von Banalitäten zu Papier zu bringen. Ja, folgerte er, es war ganz entschieden die Ehre. Ehre, die an Leute verschwendet war, die keinerlei Ahnung hatten, was Ehre eigentlich ist. Frauen

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