Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Stimme

Titel: Die Stimme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
Vom Netzwerk:
Trost, nicht nur aus den Psalmen und den Leidensgeschichten von Königen und edlen Damen aus grauer Vorzeit, sondern auch aus den erhabenen Gedanken der Heiligen Brigitta und anderer heiliger Anachoreten, ebenso wie aus den herrlichen Gesängen von Richard dem Eremiten. Seitdem weiß ich genau, warum sich Ehefrauen der Religion zuwenden.
    Doch als mein Mann nirgendwo die Gelehrsamkeit des Lewis Small preisen hörte, wurde er des Priesters überdrüssig und entließ ihn. Ein noch interessanterer Mensch hatte sich als Umgang eingefunden. Er hatte sich einen neuen Freund zugelegt, der für ein Weilchen modisch den Ton angab. Der Beruf dieses Mannes war, glaube ich, sich an Männer wie meinen Ehemann zu hängen, die nach Umgang mit Hochgestellten lechzten und sich mit dem geringsten Anschein davon zufriedengeben würden. Dieser John de Woodham war ein fahrender Geselle, ein ewiger Schildknappe, der von dem zweifelhaften Anspruch auf eine edle Abkunft durch uneheliche Geburt lebte. Seine Ware bestand aus seiner unendlichen Zahl von Beziehungen zu vornehmen Häusern und einem Fundus an ausgefallenen Geschichten, die ihm auch ein fünfjähriges Kind kaum abgenommen hätte. Aber mein im Pelzhandel so gerissener Mann war wie mit Blindheit geschlagen, wenn der Name einer hochstehenden Persönlichkeit in eine Geschichte eingeflochten wurde. Und so schluckte er den ganzen Bericht über die offensichtlichen Vorlieben des Thronfolgers, die Lieblingskurzweil der Damen der Königin, und was dergleichen Leckerbissen mehr sind.
    »In höchsten Kreisen ist man sich darüber einig, daß Gelehrsamkeit etwas für Mönche ist, doch nicht für Männer von Welt«, verkündete John, und der Priester mußte gehen. Bald gab Small auch seine ›altmodischen‹ Gewänder zugunsten eines kurzen Wamses und einer buntfarbigen Bruch auf, wie sie Woodham trug, und seine Gesichtsfarbe wurde in Anlehnung an Woodhams Jugend noch blühender. Abends kam Woodham oft zum Essen, die hervorquellenden Augen blutunterlaufen und die groben Züge bereits vom Wein erhitzt. An manchen Abenden nahm er meinen Mann auf eine Runde durch die Dirnenhäuser mit, an anderen schlossen sie sich im Vorderzimmer ein, und dann drangen durch die geschlossene Tür seltsame, erstickte Laute und Gelächter. An solchen Abenden schlief ich bei dem Jungen und seiner Kinderfrau. Wie gut, dem schrecklichen Zimmer einmal entfliehen zu können. Zuweilen war ich Woodham fast dankbar.
    Mittlerweile war mein Zustand im Haus zum offenen Skandal geworden. Die Diener schüttelten den Kopf, wenn sie wähnten, ich schaute nicht hin. Berthe, die Kinderfrau des kleinen Jungen sorgte sich um mich. Wenn ich morgens keinen Hunger hatte, ließ sie mir Weizenbrot in Milch getunkt bringen oder irgendeine andere Leckerei, um meinen Appetit anzuregen. Ich dachte, alles erkläre sich dadurch, daß meine Tage ausblieben und ich mich erbrechen mußte. Ich war schwanger. Dabei konnte ich mir kaum noch vorstellen, daß ich mir das einmal von ganzem Herzen gewünscht hatte. Jetzt fühlte ich gar nichts mehr, nur noch eine große Müdigkeit, Lebensmüdigkeit schlechthin.
    »Eßt, eßt, und ruht dann wieder«, sagte Berthe eines Morgens wie gewöhnlich.
    »Ich kann nicht essen, ich kann einfach nicht. Ich sollte an der Arbeit sein.«
    »Es gibt keine Arbeit, die nicht Zeit hätte, keine, die nicht auch jemand anders tun könnte. Legt Euch nur hin, und wenn etwas getan werden soll, sagte es mir, und ich bringe das schon in Ordnung.«
    »O Berthe, da hilft auch keine Ruhe. Ich schlafe nachts überhaupt nicht mehr. Es ist etwas Dunkles im Zimmer, das mir den Schlaf raubt und mir schlechte Träume eingibt.« Berthe blickte grimmig und schwieg.
    »Ihr müßt an Euer Kindchen denken. Ihr müßt Euch ausruhen und leckere Sachen essen. Jetzt legt Euch nur hin, und niemand im ganzen Haus wird Euren Mann wissen lassen, daß Ihr tagsüber geschlafen habt.«
    »Du bist sehr gut zu mir, Berthe, aber ich muß mich anziehen und zum Markt gehen. Vielleicht hilft ja die frische Luft – o Himmel, wo ist das Becken?« Und so überstand ich einen weiteren Tag. Doch wieviele wohl noch, und mir entglitt das Leben ganz und gar?
    Aber nichts, nichts was mir geschah, hielt meinen Mann davon ab, sich weiter für seinen Aufstieg abzustrampeln, und das in alle Richtungen gleichzeitig. Nicht einmal Woodham brauchte seine ganzen Energien auf. Hoffnungsfroh wie eh und je, machte er sich daran, die Gunst des taperigen alten Haushofmeisters von

Weitere Kostenlose Bücher