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Die Stimme

Titel: Die Stimme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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Bruder Gregory zunächst einmal, Christus in einem dick verpackten alten Mann auf Krücken zu sehen, dann in einer Gruppe kleiner, ballspielender Jungen und – hier tat er sich besonders schwer – in zwei alten Frauen, welche die Fensterläden ihrer Zimmer im ersten Stock geöffnet hatten, sich hinauslehnten und sich lautstark über die Gasse hinweg unterhielten.
    Da war es schon erheblich leichter, Christus in der eiligen, mantelumhüllten Gestalt eines achtbar aussehenden Mannes mittleren Alters zu sehen. Geht wie ein Reitersmann, dachte Bruder Gregory. Dann überlegte er kurz, wie gut Christus wohl zu Pferd gesessen haben mochte. Zweifellos vollendet, da er ein König war. Könige reiten immer gut; das gehört zum Beruf wie das Tragen eines purpurnen Gewandes und einer goldenen Krone, was Christus beides bekanntermaßen jetzt, da er im Himmel war, auch besaß. Doch sein Geist wurde von der höheren Ebene abgelenkt, die er gerade erklommen hatte, und so beförderte er ihn rasch dorthin zurück, mußte dann aber im nächsten Augenblick feststellen, daß es ihm absolut nicht gelingen wollte, Christus in drei Gestalten zu sehen, die aus den Schatten hervorsprangen und sich von hinten auf den Gentleman stürzten.
    Drei gegen einen, das war unehrenhaft. Ohne zu zögern, rannte Bruder Gregory los und warf sich auf die drei, die den Mann am Boden festhielten. Ein gräßliches Krachen, und er hatte zwei mit den Köpfen zusammengestoßen, und ein gemeines, kleines Messer fiel klirrend zu Boden. Bruder Gregory trat mit einem seiner großen Füße darauf und desgleichen auf die Hand des ersten Wegelagerers, die es sich gerade hatte zurückholen wollen. Als der dritte Räuber die Flucht ergriff, stand der Gentleman im Umhang gänzlich verdreckt auf und fuhr herum wie ein Tiger. Er versetzte dem zweiten Dieb einen furchtbaren Hieb seitlich am Kopf, während Bruder Gregory den ersten mit einer kraftvollen Bewegung wie ein Lumpenbündel in eine Toreinfahrt schleuderte und zu dem Fremden sagte:
    »Raus aus der Gasse, sie könnten Helfershelfer haben.«
    »Genau mein Gedanke«, antwortete der verdreckte Mann, der immer noch etwas außer Atem von dem Überfall war. Erst als sie die dämmerige Gasse eilends hinter sich gelassen und die breite Ecke von East Cheap erreicht hatten, machten sie halt und blickten sich an.
    »So, so«, sagte der Gentleman mittleren Alters und musterte dabei Bruder Gregory von Kopf bis Fuß und lächelte, denn er erkannte ihn. »Hältst mir wohl immer noch den Rücken frei, was, Gilbert?«
    »Sir William, es war mir eine Ehre«, erwiderte Bruder Gregory ernst und höflich.
    Sir William Beaufoy besah sich seine verdreckte Bekleidung. Auch wenn es sauber war, wirkte sein wattiertes Wams fadenscheinig, dazu gesellten sich noch nicht mehr zu entfernende Rostflecken, wo einst sein Kettenpanzer aufgelegen hatte. Da seine Frau sehr geschickt mit der Nadel umzugehen wußte, konnte man die ausgebesserten Stellen in seinem Umhang nur bei sehr genauem Hinsehen erkennen.
    »Ich bin ein schöner Anblick, was, Gilbert? Überhaupt nicht wie in alten Zeiten. Weißt du noch, wie du und Philip in Crecy hinter mir geritten seid? Wir waren nicht unterzukriegen – ja, ich konnte gar nicht mehr mitzählen, wieviel französische Edle wir an jenem Tag gefangennahmen. Meiner Lebtag habe ich keine besseren Schildknappen gehabt, die mir den Rücken freihielten, als dich und meinen Sohn. Und nun sieh dir das an, diese Kleidung und dann Strauchdiebe, die mir in einer Hintergasse zusetzen. Fürwahr, die Franzosen haben sich gerächt.«
    Bruder Gregory hatte seine eigenen Sorgen.
    »Ihr werdet doch Vater nicht erzählen, daß ich hier bin, nein?«
    »Gilbert, du weißt, daß ich das nicht versprechen kann. Aber ich verspreche, ihm nicht zu erzählen, wie du aussiehst.« Er musterte Bruder Gregory noch einmal von Kopf bis Fuß und schüttelte den Kopf. »Doch als Gegenleistung«, fügte er hinzu, »möchte ich eine Erklärung dafür, warum du dich in einem bäurischen Schafsfell und mit einem Federkasten bewaffnet in der City herumdrückst und wie ein ausgestoßener Mönch aussiehst.«
    »Ich bin vor kurzem aus der Welt der Gelehrsamkeit ins Reich der Kontemplation übergewechselt«, erwiderte Bruder Gregory ungemein würdevoll.
    »Kontemplation?« zweifelte der Ritter. »Soll das heißen, du willst Gott sehen? Das kann ich mir bei dir kaum vorstellen, Gilbert. Um Gott zu sehen, muß man sehr demütig sein, und besonders demütig bist

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