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Die Stimme

Titel: Die Stimme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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in Ruhe meditieren. Die Wecken sind frischer, wenn du dort früher hinkommst, kam ihm der Magen dazwischen. Und natürlich könnte man auch bessere Kopierarbeit bekommen, wenn man einen besseren Arbeitsplatz hätte, setzte das Hirn hinzu. Das Briefeschreiben für Betrunkene in Schenken hat wirklich seine Grenzen.
    Ein interessantes Problem. So wie der Anschein, daß die Geschäfte blühen, stets bessere Geschäfte nach sich zieht, so hatten Bruder Gregorys erste Erfolge als Kopist ihm jenes Gehabe vermittelt, das neue Kunden anlockte. Seit kurzem eilte ihm schon ein Ruf voraus, wenn er mit Federkasten, Tintenhorn und einem großen, gefalteten Stück Papier bewaffnet, welches er am Ende des Briefes für seinen Kunden abschnitt und sorgfältig für den nächsten wieder zusammenfaltete, die Runde durch die Schenken machte. Diesen Ruf müßte man baldigst wieder loswerden, seufzte Bruder Gregory reumütig. Denn der Ruf, in dem Bruder Gregory irgendwie stand, war der eines Meisters im Verfassen von Liebeslyrik auf Bestellung.
    Nicht einmal er wußte so recht, wie es soweit hatte kommen können, doch es hatte es sich nun einmal unter den Fuhrleuten und Kaufmannslehrlingen, Handwerkern, Wegelagerern und Meuchelmördern von London herumgesprochen.
    »Wenn du bei einer Frau wirklich Eindruck schinden willst«, erzählte man sich weiter, »dann halt Ausschau nach diesem großen, hochnäsigen Kerl, der jeden Montagmorgen in den Bear und Bull kommt. Der setzt dir vielleicht einen Brief auf, so richtig einfallsreich und blumig, mit Reimen am Ende, und das für weniger Geld, als wenn du dir eine Rechnung in der Kathedrale kopieren läßt.« Und so zapfte denn Bruder Gregory regelmäßig mehrere Male die Woche verschiedene klassische Quellen an und brachte sie in seine gewöhnlichere Muttersprache, auf daß sich die Mägdelein und untreuen Ehefrauen der City daran erfreuen konnten. Ovid und Vergil, die lieblichen Gesänge der provencalischen Troubadoure und sogar der unsterbliche Abaelard, sie alle beutete seine räuberische Feder gleichermaßen genüßlich aus. Woran man wieder einmal sieht, daß Bildung am Ende doch zu etwas nutze ist.
    Natürlich war alles ganz einfach. Wenn man sich nicht richtig mit Frauen einläßt und das auch künftig nicht vorhat, dann ist das nur ein technisches Problem, nämlich den Sprechtakt hinzubekommen. Hat man den einmal, läuft alles wie am Schnürchen. Was man aber an Bruder Gregorys Arbeit vornehmlich schätzte, war seine Versicherung, daß keine zwei Gedichte gleich waren. Das enthob die Kunden der allgegenwärtigen Furcht vor einem Vergleich. Der ist nämlich nicht von der Hand zu weisen, wenn eine Frau sich heimlich jemanden suchen muß, der ihr einen Liebesbrief vorliest. Und es konnte nur ein schlechtes Ende nehmen, wenn ihr Gewährsmann dann wohl sagte: ›Aber, genau den gleichen habe ich doch schon vergangene Woche Kat, der Frau des Fischhändlers, vorgelesen.‹ Und die Macht des geschriebenen Wortes war so groß, daß Bruder Gregorys Werke dieser Tage von den Frauen als Liebestalisman um den Hals getragen wurden, so wie furchtsame Menschen sich geschriebene Gebete als Schutz gegen die Pest umhängen.
    Bruder Gregory bog bei der Lombard Street um die Ecke und tauchte in dem Irrgarten kleiner Hintergassen unter, um eine Abkürzung zur Themse zu nehmen, die er erst kürzlich am Themsedeich oberhalb vom Billingsgate Kai entdeckt hatte. Eine etwas anrüchige Gegend, doch wenn man es recht bedachte, welcher Stadtteil war das eigentlich nicht? Aber selber wenn sein Kopf völlig in den Wolken schwebte, so hatte Bruder Gregory doch den zuversichtlichen Gang eines Menschen, der mit dem Messer umzugehen weiß, und das zusammen mit seiner Größe und der offenkundigen Magerkeit seiner Börse hielt ihm Wegelagerer wie bewaffnete Eskorten gleichermaßen vom Leib.
    Selbst noch in den kleinen Gassen war die Menschheit von einer solchen Mannigfaltigkeit, daß sie sich hervorragend dazu eignete, Bruder Gregorys Verstand zu beschäftigen. Eine Woche zuvor hatte er sich die Predigt eines hochgerühmten Predigers in Paul's Cross angehört, welcher die These vortrug, Christus wohne in jedem. Nun war diese Auffassung Bruder Gregory zwar einigermaßen geläufig, doch der Sprecher hatte etwas so Zwingendes und beherrschte die einschlägigen Texte so meisterhaft, daß er in Bruder Gregory den Wunsch geweckt hatte, dieser Sache weiter nachzugehen. Warum nicht die Idee jetzt ausprobieren? Und so bemühte sich

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