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Die Stimme

Titel: Die Stimme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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du mir nie vorgekommen.«
    »Ich bin außerordentlich demütig«, erwiderte Bruder Gregory hochnäsig und deutete nun seinerseits auf seine Kleidung. »Wenn man Demut daran mißt, wie sehr sich meine Gewandung seit früher verändert hat, so bin ich womöglich der demütigste Mann in ganz London. Rechnet man dazu noch meine geistlichen Exerzitien, so nehme ich geradezu sprunghaft an Demut zu. Um genau zu sein, ich rechne damit, daß ich Gott schon demnächst zu sehen bekomme.« Bruder Gregory wirkte sehr zufrieden mit sich.
    Wenn er jedoch erwartet hatte, daß sein Begleiter nun in Ehrfurcht ersterben würde, so sah er sich schon bald getäuscht. Zunächst fuhr Sir William zusammen. Dann prustete er los. Am Ende bog er sich geradezu vor Lachen. Als er sich wieder aufrichtete, war sein Gesicht rot, und die Tränen liefen ihm nur so herunter.
    »O Gilbert«, brachte er heraus. »Danke. Seit die Franzosen mich ruiniert haben, konnte ich nicht mehr lachen. Du machst aber auch niemals halbe Sache, was? Nicht einmal mit der Demut.« Bruder Gregory zog die finsteren Augenbrauen zusammen und sah grimmig und böse drein. Ein schöner Dank, wenn der Mann, dem man soeben das Leben gerettet hat, einen auslacht, selbst wenn es sich herausstellt, daß er jemand ist, den man sein Leben lang geachtet hat.
    »Sieh mich nicht so böse an. Ich bin schließlich nicht dein Vater.« Sir William hatte inzwischen einen Schluckauf. Bruder Gregory klopfte ihm zuvorkommend auf den Rücken, bis es besser wurde. Und um das infernalische Gelächter zu unterbinden, sagte er: »Von den Franzosen ruiniert, Sir William? Eure Ländereien liegen doch gewißlich viel zu weit im Landesinneren, als daß Ihr eine Invasion befürchten müßtet.«
    »Ach, Gilbert«, erwiderte Sir William und erbleichte jählings. »Es gibt keine Ländereien mehr. Ich habe alles verloren. Man hat Philip in Frankreich gefangengenommen, und um das Lösegeld aufzubringen, mußte ich meine Güter den Lombarden überantworten. Dann haben mir die Franzosen, diese Teufel, Nachricht geschickt, daß sie ihn erst freilassen, wenn ich noch mehr Geld schicke. Jetzt bin ich in der Stadt, weil ich just das letzte Silbergeschirr meiner Frau verscherbelt habe. Sogar das Pferd, auf dem ich hergeritten bin, habe ich verkauft. Jetzt gehe ich zu Fuß nach Haus und kann meiner Frau und meinen Töchtern nur noch sagen, daß sie kein Dach mehr über dem Kopf haben. Gönne mir das Lachen, Gilbert; es könnte mein letztes gewesen sein.« Auf einmal kam sich Bruder Gregory sehr klein und schäbig vor.
    »Aber«, sagte er beschwichtigend, »wenn Philip kommt, dann könnt Ihr Euch doch alles zurückgewinnen.«
    »Land zurückgewinnen? Land? Wer hat denn heutzutage noch Land außer den gottverfluchten Geldwechslern? Ich sage dir, Gilbert, eines Tages gehört diesen Blutsaugern ganz England. Und dann machen sie und ihre Kumpane, die Kaufleute, aus dem gesamten Königreich ein einziges großes Warenhaus und leben vom Handel. Ich sehe alles vor mir, Gilbert, ich sehe alles ganz deutlich vor mir. Eine einzige Nation von Kleinkrämern, die sich gegenseitig Schund verkauft und statt von Ruhm und Ehre von Pfunden und Schillingen lebt.«
    »Pfunde und Schillinge sind nicht alles. Es gibt immer noch Gott.«
    »Gott? Und wo ist Gott jetzt? Ich habe meinen Jungen verloren, und der war der Stolz und die Freude meines Lebens, meiner Augen, meines Herzens – und obwohl ich alles gegeben habe, um ihn zurückzubekommen, weiß Gott allein, ob ich ihn jemals wiedersehen werde!« Sir Williams Aufschrei schnitt Bruder Gregory ins Herz. Er kam sich doppelt abscheulich vor, weil er zwar Mitgefühl für Sir William empfand, gleichzeitig aber auch der Giftwurm Neid an seinen Eingeweiden nagte. Neid auf Philip, daß sein Vater ihn so pries, wo er doch nichts getan hatte, als sich gefangennehmen zu lassen. Und wenn Bruder Gregory ganz allein Jerusalem eingenommen hätte, sein Vater würde ihn nur gefragt haben, warum er nicht schon früher auf den Gedanken gekommen wäre. Wozu taugt die Demut , wenn man neidisch ist? Diese Unterhaltung warf ihn in seinem spirituellen Fortschritt um Wochen zurück.
    »Sir William, erlaubt mir, daß ich Euch zu Eurem Gasthof begleite. Ihr müßt Euch säubern, ehe Ihr euch auf den Weg nach Norden begebt.«
    »Laß nur, Gilbert, dazu habe ich kein Geld. Ich kann mich nicht einmal mit einem Ale bei dir bedanken.«
    »Ein Ale?« Bruder Gregory grinste. »Darüber würde ich mir keine Gedanken machen.

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