Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Stimme

Titel: Die Stimme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
Vom Netzwerk:
es darauf wartete, daß ich mich bedankte. Ich lächelte, und da nickte es glücklich, wobei ihm der plumpe Kopf fast von den Schultern rollen wollte. Über der Feuerstelle mitten im Raum mit Kochtopf und Gerätschaften, erhob sich das strohgedeckte Dach und teilte sich zu einer Rauchluke, durch die der Rauch nur recht unvollkommen abziehen konnte. Der obere Teil der Nissentür stand halb offen, um Helligkeit hereinzulassen, gegenüber befand sich das Fenster, eher ein Loch in der Wand, durch das ich den Mond gesehen hatte. Es gab ein paar Möbelstücke, nämlich eine kleine Lade, eine hölzerne Bettstatt und eine große Strohschütte, offenbar für die Familienmitglieder gedacht, die nicht mehr am Leben waren. In einer Ecke lag ein Strohhaufen, und in die Wand war ein Ring eingelassen, an dem die Eselin der alten Frau nachts angebunden werden konnte. Ungewöhnlich an der Kate war jedoch ihr Dach, denn von oben hingen allerlei große Kräuterbündel und getrocknete Pflanzen herab, einige noch mit den Wurzeln daran, und jedes Bündel war mit einem gesonderten Faden zusammengebunden.
    »Du bist im Haus keiner gewöhnlichen Frau«, sagte die Alte. »Ich habe nämlich seltene Kenntnisse von Kräutern, Heil- und Zaubermitteln, und mein Ruf als Heilerin in schwierigen Fällen und als Wehmutter bei gefährlichen Geburten ist weitverbreitet. Ja, selbst hohe Damen haben schon nach mir geschickt –«
    Eine Wehmutter? Jäh fiel mir mein eigenes Kind wieder ein, und ich faßte ganz außer mir nach meinem gewölbten Leib.
    »Das Kind ist tot«, sagte sie und musterte mich scharf. »Ich glaube, es war schon in deinem Bauch tot, als wir dich gefunden haben, aber das weiß man natürlich nie so genau. Es hätte das Fieber ohnedies nicht überlebt. Das gibt es zwar, aber wenn solch ein Kind dann geboren wird, ist es ganz verschrumpelt.«
    »Ganz verschrumpelt? Dann war es also ein Ungeheuer. Ich wußte ja, daß es ein Ungeheuer werden würde.« Ich begann zu weinen.
    »O nein, ganz und gar kein Ungeheuer, nein das nicht«, sagte sie und tätschelte mir die Schulter. »Ich habe es ›Gotteskind‹ getauft, als der Kopf geboren wurde, falls es zufällig noch am Leben war. Es gibt landauf landab keinen Priester mehr, der mir das übelnehmen könnte. Aber es war ein hübsches, kleines Mädchen, wohlgeformt, doch sehr klein – ganz still und weiß.«
    Wie seltsam, daß ich mich an nichts mehr erinnern konnte. Ich versuchte, meine Gedanken zurückwandern zu lassen, aber ich sah, wenn ich die Augen schloß, nichts als einen Flammenvorhang.
    »Ein Mädchen, ein wohlgeformtes Mädchen«, wiederholte ich irgendwie benommen. Die alte Frau nahm meine Hand.
    »Ich habe es ins Leichentuch gewickelt und es hier unter dem Apfelbaum begraben. Ich zeige dir, wo, wenn du wieder gesund bist.«
    Ich stellte mir mein kleines Mädchen vor, ganz weiß wie ein schlafender Engel. Natürlich konnte es nicht leben. Welches kleine Mädchen konnte schon im Haus jenes bösen Mannes leben.
    »Danke, daß du es getauft hast«, sagte ich und wischte mir die Augen. »Ich bin froh, daß es einen Namen hatte. Es ist im Himmel besser dran.« Und dann putzte ich mir die Nase.
    »Du brauchst mir nicht zu danken«, gab die alte Frau zurück. »Das gehört zu meinem Beruf als Wehmutter. Bei mir bleibt kein Kind, dem ich auf die Welt geholfen habe, ungetauft.«
    Natürlich vergißt man ein totes Kind nie und nimmer, obwohl alle Welt sagt, daß man sich nicht anstellen soll. Als ich kräftiger wurde und zuletzt nach draußen in die herbstliche Sonne gehen konnte, da saß ich dann wohl unter dem Apfelbaum und spann oder krempelte Wolle oder enthülste Bohnen und stellte mir mein kleines Mädchen vor – wie es ausgesehen hätte, welche Farbe sein Haar gehabt und wie es gelächelt hätte oder seine rundlichen Füßchen, wenn es angefangen hätte zu laufen. Aber es war ein Gotteskind – und ich habe seitdem noch viele seiner Art getauft. Vielleicht bringen die Engel ihnen das Laufen bei.

    Margaret blickte jäh zu Bruder Gregory auf, und der setzte die Feder ab. Auf ihrem Gesicht arbeitete es. An ihren Händen, die sie unter dem byzantinischen Goldkreuz gefaltet hatte, welches sie gewöhnlich trug, traten die Knöchel weiß hervor.
    »Was meint Ihr, Bruder Gregory? Wachsen tote Kinder im Himmel noch? Bringt ihnen da jemand etwas bei und nimmt sie in den Arm? Oder werden sie nicht größer und machen ewig in die Windeln?«
    Bruder Gregory war entgeistert. Diese törichte Frau

Weitere Kostenlose Bücher