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Die Stimme

Titel: Die Stimme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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lebe ich noch?«
    »Weil«, so sagte die Stimme selbstgefällig, »weil ich darum gebetet habe.« Die Stimme fuhr fort: »Als ich all meine Lieben begraben hatte, schrie ich zu Gott und der Heiligen Jungfrau und sagte: ›Jetzt, da sie alle tot sind, wer wird da mich begraben? Soll ich allein sterben, und die Tiere fressen meine Gebeine?‹ Und da hatte ich eine herrliche Vision. Die Himmelskönigin persönlich erschien mir in leuchtendrotem Umhang, mit goldener Krone und hübschen, blauen Lederschuhen. Sie sagte zu mir: ›Fürchte dich nicht, denn ich sende dir jemand, und die ist dazu ausersehen, deine Gebeine zu bestatten.‹ Und als mir Peter dann zeigte, daß er an der Landstraße jemand gefunden hatte, der noch lebte, da luden wir dich da draußen auf Moll und brachten dich hierher, obwohl es dir nicht gerade gut ging. Überall auf deinen offenen Wunden krabbelten die Fliegen herum.« Draußen, in dem mit Pfählen eingezäunten Hof, konnte ich einen Esel schreien hören. Das mußte Moll sein.
    »Und wer ist Peter?«
    »Peter ist ein Simpel. Der könnte niemanden begraben, es sei denn, jemand anders würde es ihm sagen.«
    Ich dachte kurz darüber nach, und trotz meiner verzweifelten Lage, fand ich das Ganze irgendwie komisch.
    »Wer würde dann Peter begraben?«
    »Peter stirbt nicht, der ist ein Feenwechselbalg. Vielleicht holen sie sich ihn ja eines Tages wieder. Eins steht jedenfalls fest, von Peter bleibt nichts übrig, was man begraben müßte.«
    Damit ist dieses Problem gelöst, dachte ich, und die endlose Abfolge von Begräbnissen vor meinem inneren Auge schwand dahin.
    Ich hob den Kopf, und die Stimme nahm Gestalt an: eine Frau mittleren Alters in einem formlosen, rostbraunen Kleid mit Überkleid, um den Kopf ein weißes Kopftuch gebunden. Ihr Gesicht muß früher einmal rundlich gewesen sein, dachte ich, aber die Sorge hatte es bleich werden lassen. Die einst runden Wangen hingen jetzt als tiefe Falten und geschwollene, dunkle Tränensäcke schlaff herunter. Nach den Strähnen, die unter ihrem Kopftuch hervorschauten, mußte ihr Haar grau mit schlohweißen Strähnen sein. Ihre Augen waren von einem Blau, das manchmal unbestimmt und manchmal stechend sein kann. Ihre breiten, muskulösen Hände hoben den Schöpflöffel aus dem Topf und gossen seinen Inhalt in drei Holzschüsseln.
    »Wenn du dich jetzt aufsetzen kannst, magst du das hier selber essen«, sagte sie. Ich bemühte mich sehr, konnte jedoch nur den Kopf heben.
    »Peter, hilf der Frau beim Aufsetzen«, sagte sie, und da sah ich ein grauslich aussehendes Ungeheuer auf mich zukommen, dessen entfernt menschliche Gestalt es nur noch furchteinflößender machte. Oben auf einem gedrungenen, buckligen, runden Leib saß auf einem dicken, fast nicht vorhandenen Hals ein schwerer, pausbäckiger, spitz zulaufender Kopf mit spärlichem, feinen, glatten, braunen Haar. Es hatte winzige, schweinsartige Schlitzäuglein. Sie wirkten wie falsch eingesetzt, da die Stirn fast völlig fehlte. Das schweinsartige Aussehen wurde noch durch eine winzige Stubsnase mitten im Gesicht verstärkt. Der Mund war groß und aufgeworfen, doch nicht groß genug für die Zunge, die selbst dann heraushing, wenn das Geschöpf nicht sprach. Ich sage ›sprechen‹ nur aus Höflichkeit, denn die alte Frau schien die Grunz- und Ächzlaute des Geschöpfes als Worte auszulegen.
    »Nur keine Bange«, sagte die alte Frau, als sie mich zusammenfahren sah. »Peter ist das freundlichste, liebevollste Wesen, das je geboren wurde. Immer lächelt er, und Traurigkeit kennt er nicht. Du wirst bald merken, daß es schlimmere Gefährten als einen Wechselbalg gibt.« Als das Geschöpf sie umarmte, als hätte es verstanden, daß die Rede von ihm war, da streichelte sie es über den Kopf. »Aber zum Schwatzen habe ich wirklich jemanden gebraucht«, sagte sie mit dem Anflug eines Lächelns. »Peters Unterhaltung mag fröhlich sein, läßt aber doch einiges zu wünschen übrig.«
    Peter lächelte erneut sein seltsames, verzerrtes Lächeln, wiegte sich vor Freude über das Lob hin und her und gab zärtliche, liebevolle Laute von sich. Dann kam er zu meinem Bett zurück, schob mir seinen starken Arm unter den Rücken und zog mich mit der anderen Hand hoch, bis ich saß.
    An welch sonderbarem Ort war ich doch! Da saß ich nun auf einer durchgelegenen Strohschütte in einem Raum, der entschieden eine Bauernkate war. Ein merkwürdiges Geschöpf hockte neben mir und sabberte fröhlich vor sich hin, während

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