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Die Stimme

Titel: Die Stimme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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eines Lächelns. »Wieviele Strophen von ›Robyn Hoodes Heldentaten‹ kannst du denn singen?«
    »O, über sechzig richtige Strophen, mehr als alle in Ashbury!«
    »Dumme Mädchen wachsen Älteren nicht so schnell über den Kopf«, gackerte Hilde vergnügt, »denn ich kann über hundert. Kennst du ›Reineke Fuchs‹ und ›Die Geschichte von den drei Räubern‹?«
    »Ich kann Reineke Fuchs auf drei verschiedene Arten«, sagte ich hochnäsig.
    »Und ›Die langmütige Griselda‹ auch, möchte ich wetten«, sagte sie, als ob sie mich auslachen wollte.
    »Die langmütige Griselda kann ich nicht leiden, kein bißchen«, erwiderte ich und sah grämlich drein.
    »Hatte ich mir schon gedacht«, kicherte sie. »Ich mag sie selber auch nicht besonders.«

     Bruder Gregory blickte von seinem Text auf und unterbrach sie.
    »Die langmütige Griselda ist eine Geschichte mit einer sehr lehrreichen Moral. Es könnte Mädchen heutzutage nur guttun, wenn sie öfter daran dächten, was Griselda uns lehrt.«
    Margaret war ungemein verärgert. Ihr Gedächtnis strömte nur so, und da paßte es so richtig zu Bruder Gregory, daß er ihr mit der unleidlichen, langmütigen Griselda dazwischenfuhr.
    »Ich glaube, es macht Euch Spaß, sündhaften Frauen moralische Geschichten vorzutragen«, sagte sie, und dabei funkelte es gefährlich in ihren Augen.
    »In meinem Kopf ist kein Platz für Schund«, erwiderte Bruder Gregory und blickte prüde und mißbilligend. »Wenn ich vortrage, dann Psalmen zur Läuterung meiner Seele.« Würstchen, dachte Bruder Gregory. Durch euch bin ich vom rechten Wege abgekommen. Dieses widernatürliche Weib hegt so niedere Gedanken in ihrem Hirn, daß ich mich damit über und über beschmutzt habe. Er seufzte. Würstchen. Hmm. Gar nicht so schlecht zum Abendessen heute. Dann ertappte er sich bei positiven Gedanken über die Sünde der Völlerei, und es schauderte ihn. Nun würde er fasten müssen. Doch Margaret wirkte nicht sehr niedergeschlagen, obwohl Bruder Gregory sie so angeprangert hatte. Ein verschlagener, vergnügter Ausdruck war über ihr Gesicht gehuscht.
    »Bruder Gregory, Ihr habt gerade zugegeben, daß die langmütige Griselda Schund ist«, sagte sie. Bruder Gregory fuhr zusammen. Sie hatte ihn überrumpelt. Wie entwürdigend. Margaret konnte nicht widerstehen, ihren Vorteil auszunutzen. »Meiner Meinung nach ist eine Frau, die ihrem Mann gehorsam bleibt, obwohl sie glauben muß, daß er alle ihre Kinder ermordet hat, nicht langmütig, sondern dumm und feige.« Bruder Gregory blickte grimmig vor sich hin, während er nachdachte. Wäre sie ein Mann, an ihren Worten wäre vielleicht etwas dran. Aber wenn er etwas nicht zuließ, dann daß eine Frau, vornehmlich diese gräßliche da, einen Streit mit ihm gewann. Er blickte an seiner Nase herunter und sagte in ruhigem, überheblichen Ton:
    »Frauen ist es im Gegensatz zu Männern nicht so gegeben, abstrakte Eigenschaften zu beurteilen; darum frommt es sich für eine Frau, sich in derlei Dingen gänzlich dem Urteil des Mannes zu unterwerfen. Aristoteles hat sich dazu eindeutig geäußert; er sagt, eine Frau ist lediglich zu einer Tugend fähig, nämlich zum Gehorsam.« Geschafft; gegen den Großen Meister Aristoteles kam sie nicht an. Margaret richtete den Blick auf ihre Stickerei, zweifellos war sie nun vernichtet.
    »Der Aristoteles da, das war doch ein Mann, oder?« Bruder Gregory entging der ironische Unterton in Margarets Stimme.
    »Natürlich«, sagte er.
    »Ja, natürlich«, gab Margaret zurück und wandte immer noch das Gesicht ab. Sie hatte mühsam gelernt, wie man Lachen unterdrückte.
    »Seid Ihr für heute fertig?« fragte er hoffnungsvoll.
    »Nein, ich habe noch mehr«, erwiderte sie. Bruder Gregory seufzte und begann aufs Neue.

    Mutter Hilde glaubte zu wissen, daß Gott, der von allen Spielarten des Humors vermutlich die Ironie am meisten schätzte, sie wegen ihrer Armut vor der Pestilenz errettet hatte und das auch noch ungeheuer witzig fand.
    »Wenn man's bedenkt, Margaret«, sagte sie, »dann ist diese Pestilenz so tödlich, daß selbst schon ein Blick die Krankheit überträgt. Die Luft rings um einen Kranken ist vergiftet; gleichermaßen sein Haus und seine Habseligkeiten. Hat man Kopfschmerzen, so folgt das Fieber auf dem Fuße. Ehe der Tag herum ist, haben sich schwarze Flecke und große Geschwülste gebildet, und der Mensch sinkt ins Grab.
    Aber in meiner armen Hütte, so weit entfernt vom Dorf, wer sollte da Mutter Hilde vergiftete

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