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Die Stimme

Titel: Die Stimme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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ich sei der Meinung, einem Mann stünde Frömmigkeit nicht wohl an. Ich kann mir gut vorstellen, daß du in einem Anfall von Begeisterung die Gelübde der Armut, Keuschheit und des Gehorsams ablegst. Ich kann ja sehen, daß du mit der Armut gut zurechtkommst und es vielleicht auch schaffst, dich an die Keuschheit zu halten. Aber seit wann bist du gehorsam gewesen? Wenn du auch nur einen deiner aufmüpfigen Streiche bei den Kartäusern abziehst, wirst du dir noch wünschen, du säßest im Keller deines Vaters.« Aber Bruder Gregory hörte nicht auf das Gelabere des alten Mannes, stattdessen fragte er ihn nach dem Tor, durch das dieser die Stadt verlassen wollte, und bot ihm Schutz und Geleit bis dorthin an. Der Ältere seufzte still und stand auf. Nicht eines seiner Worte war in Gilberts Dickschädel gedrungen.
    Schweigend gingen sie die Bishopsgate Street entlang, vorbei an der Abtei von St. Helen, bis sie dann im Schatten des Tores standen. Aber Bruder Gregory ging ein Gedanke im Kopf herum. Er wandte sich zu Sir William und sagte:
    »Es ziemt sich für einen Gentleman nicht, zu Fuß zurückzukehren. Gewiß…«
    »Ich werde schon nicht am Bettelstab gehen, Gilbert. Jetzt nicht, und nie und nimmer.«
    »Aber Ihr werdet doch wenigstens den Herzog aufsuchen?«
    »Natürlich werde ich das. Wann hätte er mich je im Stich gelassen, oder ich ihn? Ich gehe zu ihm, sowie ich zuhause bin. Er hält die nächsten vierzehn Tage in Kenilworth hof, und er hat einen alten Krieger noch nie abgewiesen. Zumindest aber wird er für die Mitgift meiner Mädchen sorgen und mir einen Posten anbieten. – Sag, Gilbert, kannst du dir vorstellen, ich als adliger Zeremonienmeister?«
    »Nicht gut, Sir William; das paßt überhaupt nicht zu Euch.«
    »Finde ich auch. Ich habe es mir lange durch den Kopf gehen lassen. Wenn ich Philip zurückhabe, gehe ich wieder außer Landes – als Söldner, wenn es sein muß. Ich bin noch nicht zu alt für den Versuch, mir mit dem Schwert alles wieder zurückzuerobern.«
    Sir William musterte den Weg, der sich vor ihm erstreckte, dann blickte er Bruder Gregory fest in die Augen.
    »Gilbert, ich warne dich. Du bist auf dem falschen Weg. Für manch einen nicht falsch, doch für dich. Wenn du darauf beharrst, wirst du für den Rest deiner Tage eher ein kirchliches Gefängnis von innen zu sehen bekommen als Gott.«
    Bruder Gregory neigte den Kopf und tat, als hörte er zu. Als sie sich die Hand schüttelten und Abschied nahmen, dachte der Ältere: »Sir Hubert ist ein Narr, und beim nächsten Mal, wenn ich ihn sehe, werde ich ihm das auch sagen. Wenn er nur ein bißchen nachgeben würde – ein freundliches Wort über die Lippen brächte –, er hätte seinen Sohn wieder.« Er drehte sich um und sah Bruder Gregorys hochgewachsener, eigensinniger Gestalt nach, wie sie sich auf der Bishopsgate Street einen Weg durch das Gewimmel der Händler und Lehrlinge zurück zur Stadtmitte bahnte. Dann wandte er sich jäh ab und wickelte sich fester in seinen Umhang, denn es nieselte frühlingshaft. Vorbei an St. Botolphe und dem Bethlehem Spital zog sich die lange Straße zwischen grasbewachsenen Rainen dahin, an verstreuten Hütten und Hühnerhöfen vorbei in die grüne und verhangene Ferne. »Es wäre ein leichtes für sie«, sagte er leise bei sich. »Ich aber, ich habe nichts.«

    Als Bruder Gregory an diesem Nachmittag bei den Kendalls eintraf, strahlte er eine Zufriedenheit aus, die ganz und gar nicht zu ihm paßte. Das fiel Margaret auf der Stelle auf, doch sie sagte nichts.
    »Er hat gerade jemanden angefahren«, vermutete sie bei sich. »So sieht er immer aus, wenn er jemanden beleidigt hat. Natürlich würde er das nicht als Beleidigen auffassen. Er glaubt, es hilft den Menschen, sich zu bessern, wenn er ihnen Wahrheiten sagt, die sie in ihrer Beschränktheit nicht wahrnehmen. Wer das wohl gewesen sein mag? Irgendein Kerl, der ihm ein verdorbenes Würstchen angedreht, oder vielleicht ein Priester, der den Heiligen Paulus nicht richtig zitiert hat.«
    In Wahrheit verhielt es sich nicht ganz so, obwohl Margaret beinahe ins Schwarze getroffen hatte. Bruder Gregory dachte an seinen Vater. In den Stunden nach seiner zufälligen Begegnung mit Sir William, war er zu der Auffassung gelangt, es sei so nur zum Besten. Just malte er sich aus, wie Sir William, ein alter Freund seines Vaters, schnurstracks zu diesem ging und ihm alles über Bruder Gregorys Demut erzählte. Was seinen Vater natürlich sehr erbosen würde, denn

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