Die Stimme
Luft zutragen? Welche eitle, geschwätzige Ehefrau mochte Hilde schon einen Blick schenken, welche so arm war, daß man sie übersah, bis die Wehen richtig einsetzten. In die Kirche sind sie gerannt, um zu beten und haben dort alle zusammen die schlechte Luft eingeatmet. Wer konnte, ist noch mit seinem Hab und Gut geflohen und hat das Übel ins übrige Reich getragen. Wer geblieben ist, hat sich im Haus eingeschlossen und ist zugrunde gegangen, und einer hat den anderen begraben: die Mutter ihre Kinder, der Mann seine Frau. Dann stirbt der Priester, und die Totengräber fliehen – die verwesenden Leichen liegen jetzt in ihren eigenen Häusern herum. Und wer bringt in dem ganzen Durcheinander wohl der alten Hilde zu essen? Niemand! Sie ist vergessen. Vergessen von allen, aber nicht von Gott. Und Er sagt: ›Dennoch seid ihr vor Gott nicht vergessen; selig seid ihr Armen, denn das Reich Gottes ist euer; die alte Hilde wird leben, weil sie der Beachtung nicht wert war‹. So sagt Gott. Er bringt alles durcheinander und ärgert besonders gern die Eitlen. Gottes Augen sehen alles, Margaret! Und da hocken wir nun, womöglich als die letzten Menschen, die auf der ganzen Welt noch am Leben sind. Die Pestilenz breitet sich aus und tötet, und die arme alte Hilde, die nicht lesen und nicht schreiben kann, bleibt übrig, damit sie davon erzählt. Ich glaube, für Gott ist alles nur eine Posse. Nicht unsere Art Posse, aber Seine.«
Wenn man Mutter Hilde zuhörte, ergab alles irgendwie einen Sinn. Aber Gott als Possenreißer? Ihre Vorstellung war mir gar kein Trost. O lieber Herr Jesus, betete ich, bewahre mich vor dieses Possen Gottes. Kummer und Sorgen sind schon schlimm genug. Aber Possen zu reißen? Das kam mir denn doch zu ungerecht vor.
»Hilde ist eine Ketzerin.« Angewidert setzte Bruder Gregory die Feder ab. Margaret sah ihn durchdringend an.
»Das finde ich nicht«, sagte sie mit ruhiger, jedoch fester Stimme. »Außerdem«, setzte sie hinzu, »unterbrecht Ihr mich im wichtigsten Teil.«
»Ach, wirklich?« gab Bruder Gregory zurück, wobei er skeptisch eine Braue wölbte. »Mir kommen alle Teile ziemlich gleich vor.«
»Das sind sie nicht. Ein Teil muß ja wohl auf den nächsten folgen, sonst kann man den letzten nicht richtig verstehen. Erst wenn man das Ganze kennt, weiß man, was die wichtigsten Teile sind.«
»Genau, Madame Philosoph«, erwiderte Bruder Gregory. »Und so laßt uns denn fortfahren.«
Als ich wieder auf den Beinen war, half ich Hilde beim Sammeln und Einlagern von Nüssen und Obst, denn es war Herbst geworden, auch wenn niemand außer uns sammeln und ernten konnte. Welch trostloser Anblick: Keine Reihen von Männern und Frauen, die mit Sicheln über die Getreidefelder schritten! Die reiche Ernte verdarb auf dem Halm. Krähen krächzten, und Bienen summten, und zuweilen konnten wir verwilderte Hunde bellen hören. Aber nirgendwo Rufe und Zurufe, kein Hirte mit seiner Pfeife. Nichts als Schweigen und Hitze. Auf den langen, goldenen Streifen der Getreidefelder waren unregelmäßige Muster herausgefressen, wo sich nämlich eine Kuh oder ein Pferd losgerissen hatte und herrenlos herumgewandert war. Andere Tiere waren in ihren Pferchen Hungers gestorben oder durch die Pestilenz, und wenn der Wind in unsere Richtung stand, blies er uns ihren Verwesungsgeruch zu.
»Mutter Hilde«, sagte ich eines Tages, »ich muß wieder zu Kräften kommen. Dazu will ich jeden Tag ein wenig weiter umherwandern. Heute möchte ich bis ins Dorf und nachsehen, ob sich dort noch etwas regt.«
»Wie du willst, aber finden wirst du nichts. Sieh dich vor und geh in kein Haus – sie sind innen alle vergiftet.« Und dann fiel ihr doch noch etwas ein, und sie fügte hinzu: »Am Ende des Feldweges, bei der Allmende steht vor einem Haus ein sehr schöner Birnbaum. Seit Tagen schon wollen mir diese süßen Früchte nicht aus dem Kopf. Ich habe sie schon immer mal probieren wollen, und jetzt verfaulen sie einfach. Wenn du dort vorbei mußt, sieh nach, ob noch gute am Baum sind und bring mir ein paar mit.« Und so machte ich mich mittags auf den Weg zu einem einsamen Spaziergang und zu Hildes Birnen. Ich wollte nachdenken und nachsehen, ob es noch etwas zu sehen gab.
Zwar schienen wir dort im Schatten des Waldes fern vom Dorf zu wohnen, doch in Wahrheit war es gar nicht so weit. Vielleicht machten es meine schwachen Beine, daß es mir der Weg so lang vorkam. Doch die tatsächliche Entfernung zwischen Mutter Hildes kleinem Haus
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