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Die Stimme

Titel: Die Stimme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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eine Wachstafel und einen Griffel mit, dazu noch eine kleine Tafel, auf die alle Buchstaben des Alphabets eingeschnitzt standen.
    »Laßt mich sehen!« rief Margaret aus.
    »Nicht, bis wir das Kapitel fertig haben«, sagte Bruder Gregory. »Oder sollte das etwa das Ende Eures Buches bedeuten?«
    »Nein, nein, ich muß noch erklären, was dann geschah und wie wir im Winter vor dem Verhungern bewahrt wurden und auch noch allerlei Geschehnisse danach!« rief Margaret eifrig.
    »Das hatte ich mir beinahe schon gedacht«, bemerkte Bruder Gregory trocken.
    Und so nahm er denn seinen Platz am Tisch ein, machte Tintenhorn und Messer zum Anspitzen der Feder bereit und schickte sich an zu schreiben.

    Mutter Hilde war eine sehr praktische Frau und ließ sich durch Herumgrübeln über Dinge, die sich doch nicht ändern ließen, niemals von den Geschäften des Tages abhalten. Sowie sie merkte, daß ich wieder auf den Beinen war, hielt sie Umschau und überlegte, wie wir am besten Korn für den Winter lesen und lagern könnten. Der Verlust ihrer Söhne hatte alles noch schwieriger für sie gemacht. Peter durfte man nichts Scharfes anvertrauen, schon gar nicht eine Sichel, und ich war zu zart, um von großem Nutzen zu sein. Dennoch brachten wir das Korn ein, so gut es eben ging, und lagerten es in Haufen auf dem Halm.
    »Zu wenig, zu wenig«, brummelte Hilde dann wohl kopfschüttelnd, wenn sie unsere Korn- und Bohnenvorräte überprüfte. »Und kein Tier zum Pflügen.« Und wenn sie noch soviel brummelte, ich befand mich in einer so seltsamen Stimmung, daß ich mir einfach keine Sorgen machen konnte. Denn die Welt, die ich sah, glühte farbenprächtig; jeder Gegenstand, wie nichtig auch immer, war von einer Art schimmerndem Umriß umgeben, und so staunte ich denn alles an wie ein neugeborenes Kind. Und gleich einem Kinde war mir mein Schicksal gänzlich gleichgültig. Solange ich heute zu essen hatte, dachte ich nicht an morgen. Alles war so zauberisch, wie konnte es da wohl schlecht ausgehen? Mehrere Wochen nach meiner Vision verharrte ich in einem Zustand vollkommener Wonne und Gleichgültigkeit. Mir war es genug, mich mit der neuen Idee, die mir gekommen war, zu befassen: daß nämlich alle Dinge und Zustände nur Spielarten des Lichts waren und daß in jeder Form Licht die Emanation und Manifestation Gottes war. Ich fühlte mich vom Universum umgeben und durchdrungen, wußte aber nicht, wo es begann und wo ich aufhörte. Und so hockte ich in meiner verzauberten Welt und war irgendwie sorglos glücklich, was vermutlich meine gute Freundin oftmals reizte, denn sie wollte ihre Sorgen mit jemandem teilen. In dieser seltsamen Jahreszeit trugen sich zwei merkwürdige Dinge zu. Zunächst einmal fing mein Haar, das mir während und nach meiner Krankheit büschelweise ausgefallen war, wieder an zu wachsen. Hilde hatte mir geraten, es über der Schulter abzuschneiden, damit es nachwachsen könne. Schnipp, schnapp mit der Schafschere, und ein Meter totes, glattes Haar war zu Boden gefallen. Jetzt wuchs es wieder, doch nicht glatt, sondern lockig und mit einem eigenartigen Schimmer unter der echten Farbe.
    Und als ich dann eines Tages draußen bei der Arbeit saß und mein neues Haar bewunderte, da fiel mir am Garten etwas noch Merkwürdigeres auf. Über meinem Lieblingsplatz bereiteten sich die Zweige des Apfelbaums, jetzt der Früchte des Sommers ledig, auf die kahle Winterszeit vor. Taten sie das? Beim näheren Hinschauen erblickte ich etwas Seltsames an den Zweigen. Ein Dutzend, nein – zwanzig und mehr – weiße, süß duftende Apfelblüten! Das hatte es noch nie gegeben. Ob das ein Zeichen war? Ich setzte mich unter den Baum und wollte kurz nachdenken.
    »Ja, ein Zeichen .« Ich hörte in und rings um die Blüten eine sanfte, summende Stimme, gleichsam wie Bienen, die nach Nektar suchen. »Mit dem ersten hast du aber lange gebraucht«, fuhr die Stimme fort. Ich blickte hoch, konnte aber nichts sehen. »Hübsch, nicht wahr? Ich dachte mir schon, daß dir das gefallen würde.« Lieber höflich sein, dachte ich.
    »Ist das für mich? Es ist sehr schön. Aber ich verstehe nicht –«
    »Jetzt willst du also auch noch Erklärungen haben? Die meisten Menschen macht schon ein Zeichen ganz glücklich. Du solltest Mich nicht versuchen, Margaret. Und selbst wenn Ich es erklärte, du würdest es doch nicht verstehen. So ist das gewöhnlich mit euch Menschen.«
    »Ich wohl, ich würde es verstehen, wenn du es mir richtig erklären würdest.

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