Die Stimme
Ich weiß, daß ich nicht gelehrt bin, aber wenn du es schlicht –«
Aber die Luft über dem Apfelbaum war still.
Den scharfen Augen von Mutter Hilde entging mein merkwürdiges Benehmen nicht, und sie begann mit sich selbst zu reden:
»Wer weiß, wer weiß? Es ist schon viel Seltsameres geschehen. Vielleicht hilft uns Gott durch diese Jahreszeit. Denn wahrlich, allein müssen wir zugrundegehen.« Und als sie eines Abends das Essen aus dem Topf austeilte, bemerkte sie:
»Margaret, keiner wird so alt wie ich, wenn er nicht schlau ist. Ja, ich habe mehr als fünfzig Lenze auf dem Buckel! Und ich kenne ein, zwei Tricks, das kannst du mir glauben. Aber ich habe auch Glück gehabt, und genau darauf warten wir jetzt.«
»Was für eine Art Glück, Mutter Hilde?«
»Den Winter hier können wir nicht überstehen, es sei denn, er ist für die Jahreszeit zu milde. Aber mir ist der Gedanke gekommen, daß ja nicht alle Welt tot sein muß. Wenn nicht, dann kriegt man doch wohl Kinder? Oder braucht einen Breiumschlag oder eine Heilsalbe? Und wenn, warum sollte man dann nicht nach der alten Hilde forschen, die landauf landab als die weiseste in diesen Künsten gilt? Ich werde mir also keine Sorgen mehr machen, denn wahrscheinlich wird eher Lady Fortuna an unsere Haustür klopfen als Sir Hunger.« Seitdem habe ich viele Male die Erfahrung gemacht, daß man besser zuhört, wenn Hilde eine Idee ausbrütet, denn ihre Voraussagen haben es an sich, daß sie in Erfüllung gehen.
Als die ersten kalten Winde die Blätter fortbliesen, und die Herbstregen die Pfade aufs Feld und zum Dorf in tiefe Matschgräben verwandelten, da machten wir es uns drinnen gemütlich und warteten auf Hildes Lady Fortuna. Obwohl wir uns noch einsamer als sonst vorkamen, waren wir nicht untätig. Während Peter das Essen umrührte, mahlten wir Mehl oder spannen, tauschten Geschichten und Balladen aus, und Hilde gab ihr Wissen von Kräutern und deren Verwendung an mich weiter. Sie hatte beschlossen, daß wir uns, wenn wir, so Gott wollte, in die Welt der Lebenden zurückkehrten, in die Geburtshilfe und das Heilen teilen sollten, denn gemeinsam konnten wir auf diesem Gebiet vielleicht mehr erreichen als allein. Wie sie es eines Tages ausdrückte, als sie ein Kräutergemisch mit dem Stößel am Mörser bearbeitete:
»Wenn alle Welt nicht tot ist, dann brauchst du ein Gewerbe, Margaret. Und ich bin allmählich zu alt, um noch allein zu arbeiten. Du mußt zugeben, der Plan ist einfach ideal.«
Mir kam die Idee auch gut vor, doch sie ängstigte mich. Wie kann eine Frau wohl ohne einen Mann, der sie unterhält, durchkommen? Ich hatte doch nichts gelernt. Wie könnte ich jemals genügend Wissen erwerben? Ich war nicht alt und weise wie Mutter Hilde. Und der Winter war im Anzug. Das alles ließ mir keine Ruhe. Und eines Tages, als ich Moll bei stürmischem Wetter ins Freie gebracht hatte, da hielt es mich nicht länger. Alles kam mir hoch, daß mir der Hals wehtat. Und so schrie ich denn zu niemand im Besonderen den dahineilenden Wolken zu:
»Ich kann's nicht! Ich kann's einfach nicht!« Alsbald tat mir der Bauch weh, und eine ruhige Stimme drinnen in meinem Ohr sagte:
»Natürlich kannst du.«
»Bist du mein Hirn oder eine Stimme ?« fragte ich jäh.
»Du hast wirklich noch gar nichts gelernt, wie? Weißt du denn nicht, daß Meine Hand dich erhält?«
Ich mußte im kühlen Wind frösteln, und so wickelte ich mich fester in meinen Umhang. Dann sagte ich – das konnte ich mir einfach nicht verkneifen:
»Du – hast also eine Hand?«
»Nur sozusagen. Ich dachte, du würdest mich so besser verstehen.«
»O, tut mir leid –«
»Das sollte es auch. Für eine Frau machst du mir sehr viel zu schaffen.«
»Für eine Frau –? Dann bist du also doch ein Mann?«
»Ich bin, für was mich die Menschen halten. Denn mehr können sie nun einmal nicht begreifen. Findest du es nicht erstaunlich, daß ich statt Latein deine Muttersprache spreche?«
»Aber ich kann doch gar kein Latein?«
»Eben drum.«
Ich dachte darüber nach. Sehr schlüssig klang das noch nicht. Gerade schickte ich mich an, noch eine Frage zu stellen, da sagte die Stimme :
»Denk mehr nach und rede weniger, Margaret. Ich werde dir reichlich Zeit geben, daß du aus dem Ganzen schlau wirst.«
Die elende Stimme war überhaupt nicht hilfreich. Sie hatte alles nur noch mehr durcheinandergebracht. Und zu allem Überfluß hatte Moll auch noch beschlossen, sich nicht vom Fleck zu rühren. Der Wind
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