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Die Stimme

Titel: Die Stimme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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fühlen sich wieder ganz jung an!« Sie knickte der Reihe nach jeden Finger und streckte ihn wieder, um mir zu zeigen, daß die Gelenke bereits geschmeidig waren. Und während der folgenden Tage lösten sich die Schwellungen und Knoten an den Gelenken von innen her auf.
    »Margaret, du hast deine Aufgabe gefunden. Das hier ist deine Gabe. Du bist dazu bestimmt, Gutes zu tun, viel Gutes!« sagte Mutter Hilde, streckte die Hände aus und wackelte mit den Fingern, wobei sie deren Beweglichkeit anstaunte.
    »Aber Mutter Hilde, das Licht scheint doch jetzt nicht. Ich glaube nicht, daß ich es noch einmal tun kann.«
    »Ja«, gab sie mir recht, ging sachkundig um mich herum und musterte mich wie eine Henne einen großen Wurm. »Das Licht hat abgenommen. Leuchtet so gut wie gar nicht mehr. Das kommt daher, daß du deine Kraft auf die Heilung verwendet hast. Wenn du das Licht wiederbelebst, kannst du wieder heilen.«
    »Aber wie soll ich das Licht wiederbeleben? Ich habe doch nicht von mir aus darum gebeten.«
    »Was hast du getan, als das Licht über dich kam?« Mutter Hilde war eine kluge Frau, klüger als ich, obwohl ich mich durchaus nicht für dumm halte.
    »Gebetet und nicht gebetet. Ich war in einem Zustand vollkommener Ruhe, habe an nichts gedacht und mich als ein Nichts gefühlt.«
    »Dann verlasse ich jetzt das Zimmer, und du machst es noch einmal und siehst zu, ob das Leuchten zurückkehrt.« Damit ging sie. Ich kniete mich in aller Ruhe und Achtsamkeit genau wie vorher hin, und versetzte meinen Geist in den gleichen Zustand des Nichtsseins. Das letzte, an was ich dachte, ehe ich meinen Geist leer werden ließ, war das Licht.
    So verweilte ich lange Zeit über, bis ich merkte, daß das Zimmer rings um mich herum leuchtete. Nicht in dem feurigen, goldenen Leuchten des Schleiers, den noch einmal zu sehen mir wohl nicht bestimmt ist, sondern in einem weichen, lieblichen, unendlich friedvollen, orangeartigen Licht. Ich dankte und pries Gott und stand auf.
    »Ja, ja«, sagte Mutter Hilde, als sie geschäftig ins Zimmer eilte. »Du leuchtest ganz entschieden wieder. Ich habe gesehen, wie du angefangen hast, und dann stieg dir aus Kopf und Schultern ein sanfter orangefarbener Schein hoch.«
    »Du hast es gesehen? Du hast zugesehen?« Ich war entgeistert.
    »Durch den Türspalt, liebes Kind. Was hast denn du erwartet? Du weißt doch, wie neugierig ich bin.«
    »Liebe Freundin«, sagte ich und tätschelte ihre Hand. »Wenn ich gewußt hätte, daß man mir zusieht, ich hätte es nicht zustandegebracht.«
    »Das dachte ich mir schon, ja, ja. Bitte, verzeih mir. Denn wenn ich es nicht getan hätte, wie sollten wir wohl deine Gabe verstehen? Außerdem verspreche ich dir hoch und heilig, daß ich nie wieder zusehen werde, wenn du es nicht willst. Meine Neugier ist gestillt. Du hast eine echte, von Gott gesandte Gabe, mit der du auf der Welt Gutes tun sollst.« Sie lief geschäftig hin und her, stand aber jäh still und blickte mir in die Augen.
    »Aber sag mir«, fragte sie, »wo du jetzt leuchtest und betest, hältst du da noch dein Versprechen, meine Gebeine zu bestatten?«
    »Natürlich, natürlich«, versicherte ich ihr. »Ich bin immer noch, wenn auch nicht ganz, dieselbe. Eine Sünderin ohn' all Verdienst und Würdigkeit und deine Freundin.«

    Bruder Gregory hatte sich mit Tinte bespritzt, so schnell hatte er die Worte niedergeschrieben, während Margaret redete. Als sie ihn ansah, zitterten ihm die Hände, seine Lippen waren ein schmaler Strich, und aus seinem Gesicht war alle Farbe gewichen. Er blickte von seiner Arbeit auf.
    »Im Namen Gottes, Weib, ich beschwöre Euch, lügt Ihr auch nicht das allerkleinste bißchen?«
    »Nein, Bruder Gregory, es ist so wahr, wie es meine Zunge zu erzählen vermag.«
    »Ist Euch klar, was es mit dieser Sache, von der Ihr erzählt habt, auf sich hat?«
    »Das ist mir klar«, sagte Margaret ruhig. »Deswegen habe ich Euch ja auch gesagt, daß der vorhergehende Teil notwendig war.«
    »Es ist ungerecht, es ist absolut nicht recht«, schäumte Bruder Gregory. »Ich habe das härene Gewand getragen, ich habe gefastet, ich habe Tage und Nächte ohne Schlaf gebetet. Ich habe Ihm meinen reinen Leib angeboten, und Gott, der mir die mystische Vereinigung vorenthielt, gewährt sie Euch! Euch! Einer Frau, einer Sünderin, einer ungehorsamen Aufwieglerin. Einer Frau von so großer Eitelkeit, daß sie sich einen Schreiber nehmen muß, um ihre erbärmliche Lebensgeschichte aufzuschreiben!« Er warf

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