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Die Stimme

Titel: Die Stimme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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Schwierigkeiten hat.«
    »Deswegen braucht sie Euch, und das ohne Verzug«, sagte der Jüngere der beiden, während er mit schiefem Blick Hildes Vorbereitungen zusah. Denn sie war beim Reden nicht untätig gewesen. Ihre Eselin, die zusammen mit der Katze und den Hühnern um diese Jahreszeit im Haus war, war rasch mit gefalteten Bettdecken und einem Paar großer Satteltaschen beladen. Sie eilte geschäftig im Haus hin und her und lud ihre kleine Kiste und ihre Habseligkeiten auf. Knack, knack, knack brach sie die Stengel ab, an denen ihre getrockneten Kräuter vom Dach hingen, schlug sie in ein großes Tuch ein und lud auch sie auf. Als ich merkte, was sie wollte, schnappte ich mir ihren alten Mäusejäger und schnürte ihn in einem Korb fest, während sie die drei restlichen Hühner einfing.
    »Was bepackt Ihr die Eselin, wo wir doch ein schnelles Maultier haben?« fragte der Ältere nervös.
    »Das Maultier muß Margaret und mich tragen, während Peter bei dir mit aufsitzen muß. Also brauche ich die Eselin für meine Gerätschaften.«
    »Wollen etwa all die Leute da mit? Man hat uns nur nach einer Person ausgeschickt.«
    »Aber Margaret ist meine Helferin, und wie Ihr seht, hat sie außergewöhnlich schmale, lange Hände, was bei schwierigen Geburten äußerst wichtig ist.« Die schlaue, schlaue Hilde! Ihre Zungenfertigkeit bedeutete Sicherheit für uns alle.
    »Ich reite zusammen mit der Jungen«, sagte der jüngere Mann lüstern, »auf keinen Fall aber mit dem häßlichen Trottel.«
    »Junger Mann, das ist kein Trottel, sondern ein Feenwechselbalg. Wer ihm Gutes tut, dem erfüllen die Feen Wünsche.« Der junge Mann wirkte ungläubig, während der andere unruhig wurde.
    »Keine Hühner und keine Katze, mit so vielen Körben auf der Eselin kommen wir nicht voran«, sagte der Ältere entschieden.
    »Aber die beste Henne ist doch für Euch, lieber Freund, als Dank dafür, daß Ihr Euch so gut um uns kümmert«, schmeichelte ihm Hilde und setzte noch hinzu: »Das zweite ist für die Gevatterin Alice, der es so schlecht geht. Ausgerechnet wir sollten ihr die christliche Nächstenliebe nicht verweigern. Das letzte soll für Margaret Eier legen, denn sie muß noch kräftiger werden. Seht nur, wie blaß sie ist. Gewiß ist der Korb sehr leicht.«
    »Aber nicht die Katze.«
    »Mit Ratten kann ich nicht schlafen«, gab sie schlicht zurück.
    »Du störrische, alte Hexe, du würdest noch mit dem leibhaftigen Teufel schlafen, wenn ich dich das hier schmecken lassen dürfte«, erboste sich der jüngere und zog ungeduldig das Schwert.
    »Und wie, wenn ich fragen darf, soll eine Leiche wohl einem Kind auf die Welt helfen?« erwiderte sie gelassen. »Gewalt ist nicht die Antwort auf alles«, fuhr sie fort, »und vor allem im Umgang mit Frauen dürft Ihr nicht vergessen, daß man ›mit Honig mehr Fliegen fängt als mit Essig‹. Außerdem ist jetzt auch alles aufgeladen, seht Ihr? Und dazu habt Ihr noch etwas zu essen gehabt.« Sie leerte den Kochtopf, tat das gerade Gebackene hinein und band ihn so zwischen den Körben fest, daß die Decke es noch ein wenig warmhalten würde. Dann führte sie die Eselin aus dem Haus und befestigte deren Halfter am Sattel des Maultiers. Derart beladen und gut geschützt gegen die Kälte, machten wir uns in den langen Schatten des Nachmittags auf den Weg.

    Das Kapitel war nun fertig, Bruder Gregory legte die Schreibutensilien beiseite und zog das Täfelchen hervor, um mit der ersten Lesestunde zu beginnen. Er war ein ausgezeichneter Lehrer im klassischen Stil. Zunächst lehrte er Margaret die Buchstaben des Alphabets und ließ sie mit dem Griffel die Rillen der geschnitzten Buchstaben auf dem Holztäfelchen nachziehen und die Striche dann auf dem Wachstäfelchen wiederholen. So konnte sie diese besser behalten. Jedes Mal, wenn sie einen Buchstaben nachgezogen hatte, mußte sie den Namen sagen. Doch gleich, als er ihr die Holz- und die Wachstafel gegeben hatte, waren ihm Margarets Hände aufgefallen. Sie zitterten, so freute sie sich, aber ihr Gesicht war ganz gefaßt. Sie begriff schnell, sehr schnell, und als Bruder Gregory dann die erste Stunde beendet hatte, da beherrschte sie fast schon alle Buchstaben des Alphabets. Er ließ sie es wieder und wieder nachschreiben und las laut vor, während sie mit zittrigen Buchstaben auf dem Wachs die hölzernen nachbildete.
    »Seltsam, seltsam«, dachte Bruder Gregory bei sich. Er schüttelte den Kopf. Noch nie hatte er ohne eine Rute in der Hand

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