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Die Stimme

Titel: Die Stimme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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die Feder nieder.
    »Liebster Bruder Gregory«, sagte Margaret und legte ihm beschwichtigend die Hand auf die Schulter, zog sie aber rasch wieder fort, als sie ihn zusammenzucken sah. »Wißt Ihr denn nicht, daß es Gott über Gerechte und Ungerechte regnen läßt? Ich habe nie behauptet, würdig zu sein. Und außerdem glaubte ich, Euch wäre mittlerweile aufgegangen, daß das härene Gewand nichts einträgt als Juckreiz.«
    »Das habe ich auch gemerkt«, sagte Bruder Gregory verdrießlich. »Und Fasten macht Kopfschmerzen, und Geißeln hinterläßt Flecken im Unterhemd.«
    »Die gehen am besten mit kaltem Wasser weg.«
    »Nicht, wenn man sich damit brüsten will«, sagte Bruder Gregory.
    »Wie könnt Ihr eine Frau wohl eitel nennen, wenn Ihr Euch mit derlei Zier brüsten wolltet?« fragte Margaret lächelnd, denn Bruder Gregorys kleinlautes Kopfschütteln zeigte ihr, daß sich die Spannung jäh gelöst hatte.
    »Damals war ich jünger«, sagte Bruder Gregory, »ganz, ganz jung. Es scheint tausend Jahre her zu sein.« Er blickte betrübt aus dem Fenster. Er gefiel sich in Selbstmitleid. Und jetzt erholte er sich allmählich von dem Schreck, obwohl er das nie zugegeben hätte. Er war zu dem Schluß gekommen, daß Margaret sich durch ein vorübergehendes Vonsinnensein hatte täuschen lassen, oder schlimmer noch, durch eine falsche Visitation, doch er würde ihr das nachsehen und es sie nicht merken lassen. Frauen stößt derlei alle naselang zu. Das kommt daher, daß sie von Natur aus schwach im Kopf und übermäßig gefühlvoll sind. Der leichteste Druck, und sie brechen zusammen und meinen, das Ganze hätte einen übernatürlichen Ursprung. Er blickte immer noch tragisch drein. Das tat gut. Mittlerweile fand Margaret, daß er seine Tragödie etwas zu sehr genösse. Vielleicht, so dachte sie, ist es an der Zeit, das Thema zu wechseln.
    »Sagt mir, Bruder Gregory, glaubt Ihr, daß eine Frau genauso gut denken kann wie ein Mann?«
    »Um genau zu sein«, begann er gelehrt zu dozieren, »eine Frau kann gar nicht denken, oder zumindest nicht so denken wie wir Männer es vermögen. Doch ist bei Frauen das Imitationsvermögen hoch entwickelt, so daß manche durch Nachahmen der Männer den Anschein erwecken können, als dächten sie.«
    »Dieses Imitationsvermögen«, sagte Margaret vorsichtig, damit ihr Ton nicht verriet, daß sie ihn aufs Glatteis führen wollte, »wie weit trägt das eine Frau wohl im äußersten Fall?«
    »Nun, bis zu einem echten Denkvermögen reicht es gewiß nicht. Die Gebiete der Erfindung, der Mathematik und der höheren Philosophie, da diese das Ergebnis schöpferischen Denkens sind und deshalb nur dem Manne zugänglich, müssen Frauen verschlossen bleiben. Doch in einfacheren Dingen hat man sie gelegentlich ausbilden können. Und meiner Meinung nach auch völlig zu Recht. Denn wird nicht der Falke nützlich, wenn man ihn für die Jagd abrichtet? Kann man nicht aus einem wilden, gefährlichen Hund eine sanfte Kreatur und einen Gefährten machen, der imstande ist, Gegenstände zu apportieren und das Haus seines Herrn zu bewachen, indem man ihn bis zur Grenze seiner Lernfähigkeit ausbildet? So ist es auch mit Frauen – auch sie sollten entsprechend ihren Fähigkeiten ausgebildet werden, auf daß sie dem Mann dienen können.«
    »Wahrlich, Ihr seid sehr aufgeklärt«, erwiderte Margaret trocken.
    »Ja, mit dergleichen Ansichten hat man es schwer. So ist mir oftmals schon aufs Schärfste widersprochen worden! Denn die Großen Meister der Antike wie der heutigen Zeit sagen übereinstimmend aus, daß Frauen nicht imstande sind, ihr Handeln nach höheren Moralbegriffen auszurichten. Es gibt sogar eine bedeutende Schule, die da behauptet, daß es äußerst gefährlich sei, Frauen überhaupt Wissen zu vermitteln, denn damit würde man ihren Aktionsradius vergrößern! Ich bin jedoch der Auffassung, daß einer hinlänglich in Demut geschulten Frau das wenige Wissen, das sie aufnehmen kann, nicht schadet.«
    »Ihr scheint mir ein großer Fachmann auf diesem Gebiet zu sein«, sagte Margaret mit zarter Ironie.
    »Ganz recht, denn vor einigen Jahren habe ich eine Polemik geschrieben, ›Vom Verständnis der Frauen und anderer Kreaturen‹, welche sich einer gewissen Kontroverse erfreute, ehe sie unterdrückt wurde.«
    »Hat Euch das Schreiben Freude bereitet?« fragte Margaret vorsichtig. Oder hattet Ihr eher Freude an der Kontroverse, dachte sie bei sich. Sie hatte ausreichend Zeit gehabt, Bruder Gregorys

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