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Die Stimme

Titel: Die Stimme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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gelehrt.

Kapitel 5
    I n der nächsten Woche führte eine Magd, deren Miene ein Bild der Besorgnis bot, Bruder Gregory wortlos ins Studierzimmer. Als er einen Blick durch die halb geöffnete Tür warf, meinte er, im Zimmer den Grund für ihre stumme Mißbilligung zu erkennen. Am Schreibtisch bot sich ihm ein hübscher Anblick. Margaret saß ganz versunken über ihrem Wachstäfelchen, zu beiden Seiten der Mutter beugten sich zwei gleichermaßen vertiefte kleine Rotschöpfe über die gemeinschaftliche Arbeit.
    »Das da ist ein ›A‹; es wird wie ein kleines Haus gezeichnet.« Neben das erste unbeholfene ›A‹ wurden nacheinander zwei ungemein zittrige Nachbildungen gesetzt.
    »Das ist ein ›B‹; wie sieht das wohl aus?«
    »Wie ein fetter Mann, finde ich«, sagte die Ältere und legte den Lockenkopf schief.
    »Ich finde, es sieht schön aus, Mama, du hast es schön hinbekommen«, sagte die kleine, stets freundliche Alison.
    Bruder Gregory wartete, bis die ›Bs‹ an Ort und Stelle standen, dann fuhr er in scharfem Ton dazwischen:
    »Wie, Madame, wollt Ihr etwa den Aufruhr unter dem weiblichen Geschlecht schüren? Oder vielleicht zwei kleine Nonnen heranziehen?«
    »O!« Margaret fuhr erschrocken herum, doch da antwortete ihr ein vergnügtes Glitzern in seinen dunklen, düsteren Augen.
    »Weder das eine noch das andere. Seht nur, wie klug meine Kinderchen sind!« Stolz streckte sie ihm die Tafel hin. »Denkt doch nur, was für ein Glück das für sie ist, wenn sie ihr Leben lang lesen und schreiben können!«
    Bruder Gregory unterband den begeisterten Redefluß, der, wie er wußte, nun folgen würde:
    »Um so besser heimlich Briefe mit ihren Liebhabern wechseln und Ränke schmieden zu können! Wenn schon gelehrte Frauen und redende Hunde unnatürlich und zu nichts nutze sind, dann überlegt einmal, um wieviel widernatürlicher wohl das Schauspiel von gelehrten, kleinen Mädchen sein dürfte.«
    Doch der Ton seiner Stimme sagte Margaret, daß er nicht ganz so grämlich war wie seine Rede. Sie wußte, seine Liebe zur Gelehrsamkeit und zum Lehren war seine schwache Stelle, und welcher Lehrer freut sich nicht, wenn seine Arbeit unerwartete Früchte trägt? So blickte sie ihm mit einem gelassenen Lächeln ins gespielt spöttische Gesicht. Sie äußerte sich nicht dazu, rief nur die Kinderfrau herein, daß sie die Mädchen fortführte, obwohl das nicht ohne enttäuschten, lautstarken Protest der beiden abging.
    Bruder Gregory sah sie mit einem eigenartig betrübten Ausdruck gehen. Man konnte einfach nicht übersehen, daß die kleinen Mädchen geweint hatten, als man ihnen die Buchstaben wegnahm. Jungen im Schulzimmer weinten nur, wenn sie Schläge bekamen. Diese kleinen Mädchen wollten wahrhaftig lernen.
    »Vielleicht hat sie recht. Vielleicht ist die Rute ein schlechter Lehrmeister«, sinnierte er. Doch er schwieg dazu stille, denn solch frevelhafte Gedanken darf ein Mann der Wissenschaft nun einmal nicht hegen.

    Eine sehr einfache Notlösung hatte Monchensie und das dazugehörige Dorf vor der Pest bewahrt. Als Sir Raymond hörte, daß auf seinem Krongut zwei Familien von der Krankheit befallen waren, hatte er sie bei lebendigem Leibe in ihren verseuchten Häusern einmauern lassen und verkündete, jedem würde das gleiche widerfahren, der es wagte, sich die Krankheit zuzulegen. So hielt sich der Herr von Monchensie die Pest vom Leib, machte mit seinen täglichen Rundritten, auf denen er die Feldarbeiter beaufsichtigte, weiter und jagte wie ehedem. Für ihn hatte alles seinen gewohnten Gang zu gehen; zudem glaubte er, daß sich die Natur seinen Wünschen fügte, und nicht etwa anders herum. Nur in einer Hinsicht war es ihm nicht gelungen, der Natur etwas vorzuschreiben: seine Frau hatte ihm keinen lebenden männlichen Erben geschenkt. Genau zu diesem Zeitpunkt führte uns das Schicksal an das Wochenbett von Lady Blanche.
    Die Burg war eine alte Festung aus der Zeit König Williams. Zunächst sah man sie als langgezogene, niedrige Silhouette auf dem Hang eines Hügels, und erblickte dann den Quader des Bergfrieds über den stark befestigten Mauern, unter denen sich ein ausgetrockneter Burggraben voller hochragender Eisenspitzen dahinzog. Innerhalb der Burgmauern erstreckte sich der Burghof, auf dem es wimmelte wie in einem Bienenstock. Zusammen mit dem armseligen Dorf aus strohgedeckten Katen, das sich unten an den Berghang schmiegte und den weiten Feldern ringsum war es ein in sich geschlossenes und auf sich

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