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Die Stimme

Titel: Die Stimme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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gestelltes kleines Königreich: da gab es Hufschmiede und Waffenschmiede, Tischler und Stallknechte, Weber und Köche und Schlachter. Kurzum, bei jeder Katastrophe konnte die Burg für sich allein auf einem Meer von Nöten dahinsegeln wie Noah in seiner Arche. Hier war alles vorhanden, was man brauchte, um die Erde neu zu bevölkern.
    Himmelangst wurde es uns, die wir so ans Alleinsein gewöhnt waren, als wir uns wieder von Leben und Treiben umgeben sahen. Als unser kleiner Trupp über die Zugbrücke klapperte und die Torwache passierte, da machten wir Augen wie Dorftrottel. Das konnte unseren Begleitern nicht verborgen bleiben, und schon setzten sie die selbstgefällige Miene von Einheimischen auf, welche Pilgern einen prächtigen Schrein vorführen.
    Der Burghof besaß zwar eine steinerne Umfassung, wies aber alle nur möglichen Arten von Holzgebäuden auf, von prächtigen Stallungen bis hin zu angebauten Geräteschuppen und äußerst armseligen Hütten. Die Burg war auf ihre Art wie eine Stadt. Bei dem Kommen und Gehen der Dörfler in Geschäften, bei der regulären Garnison, einer Söldnerabteilung bunt zusammengewürfelter, angeheuerter Armbrustschützen und bei dem ständigen Strom von Besuchern und Gästen wußte niemand so recht, wer zur Zeit eigentlich wer war. Hier wurde ein riesiges Streitroß aus dem Stall geführt, dort rieb man schweißbedeckte Jagdpferde trocken. Es wimmelte von Hunden; in einem Pferch warteten Gänse auf das Messer des Kochs. Am Tor lungerten Kinder herum, um einen neugierigen Blick auf jeden Neuankömmling zu erhaschen. Unsere Begleiter brachten uns zum Stall, wo ein Stallknecht seine Leute anwies, sich um die Eselin zu kümmern, während er selbst das Abladen unseres buntgewürfelten Gepäcks vor seiner kleinen Wohnung neben dem Stall überwachte. Man brachte uns ohne Verzug in die große Halle, welche über den Wachräumen und den Kellern das Hauptgeschoß des Bergfrieds bildete.
    Lady Blanche lag in einer der Kemenaten, welche an die große Halle angrenzten und die man als Wochenstube hergerichtet hatte. Sie war von einer Schar Damen umgeben, darunter auch ihre beiden ältesten Töchter. Daß nun auch noch zwei weise Frauen hinzukamen, machte bei dem geschäftigen Treiben dort kaum einen Unterschied. Eine ältere Dame betupfte Lady Blanche die Schläfen mit Rosenwasser; zwei andere hielten ihr die Hände, während sie sich wand und stöhnte. In einer Ecke murmelte eine Dienerin Gebete, während eine andere einen kunstvollen Gebärstuhl und einen Kinderbadezuber bereitmachte. Ein Priester – später erfuhr ich, daß es sich um Vater Denys, den Familienkaplan handelte – verbrannte Weihrauch und verspritzte Weihwasser, während er das Gebet für Frauen in ihrer schweren Stunde betete. Lady Blanches Lieblingsjagdhunde, die man ausgesperrt hatte, jaulten und kratzten bei jedem Stöhnen von ihr an der Tür. Über einer der langen Stangen am Kopfende des Bettes hingen ihr Umhang und ihr Überkleid; auf der anderen trippelten ihre Falken unruhig auf und ab, daß ihre Glöckchen nur so klingelten.
    Als man uns anmeldete, löste sich ein großes und anmutiges Mädchen, Lady Blanches älteste Tochter, aus dem Trubel und erklärte Mutter Hilde, daß die Wehen zu früh eingesetzt hätten und man um das Leben des Kindes fürchtete. Zögernd machte man Mutter Hilde den Weg frei, welche alsdann durch die Röcke von Lady Blanches Unterkleid diskret ihren riesigen Leib befühlte, das Ohr darauf legte und lauschte und dann eine intime Untersuchung vornahm, welche die Geburtspforte und die Bettücher einbezog. Dann blickte sie Lady Blanche ins weiße, angespannte Gesicht und sagte: »Ich glaube, das sind noch keine echten Wehen, die hören wieder auf. Doch es wird nicht leicht werden, das Kind liegt quer.«
    »Hab ich's nicht gesagt!« meinte eine der Damen.
    »Wie ich mir dachte, genau!« flüsterten andere Stimmen triumphierend. Alle Frauen bilden sich ein, daß sie etwas vom Kinderkriegen verstehen.
    »Dann wissen die edlen Damen zweifellos auch, daß sich Mylady ausruhen und sich für die echten Wehen mit erlesenem Essen kräftigen und vorbereiten muß. Die erkennt man dann am Blasensprung.« Mutter Hildes entschiedene, ruhige Miene trug dazu bei, daß sich die Spannung im Raum löste, obwohl selbst ihre sanftesten Worte nur wenig Wirkung auf Lady Blanche zu haben schienen.
    »Dem Kind dort drinnen geht es gut, denn ich habe gespürt, daß es sich bewegt. Nehmt unterdessen diese Arznei, die

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