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Die Stimme

Titel: Die Stimme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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zuzuwerfen.
    »Mylady«, sagte Hilde und verneigte sich tief – ach, so tief! »Ich glaube, daß Euer Kind immer noch quer im Schoße liegt und nicht mit dem Kopf nach unten, wie es für eine leichte Geburt am besten ist. Wenn Ihr gestattet, werde ich mit Hilfe dieser Damen hier versuchen, das Kind in die richtige Lage zu bringen.«
    Lady Blanche tat ihre Zustimmung durch ein angespanntes und abwesendes Nicken kund. Hilde schickte nach Fruchtlikör, und als Lady Blanche soviel getrunken hatte, daß sie beschwipst war, ergriff ihre Tochter ihre Hand, während eine der anderen Damen ihr zur Wiederbelebung eine Parfümkugel unter die Nase hielt. Mutter Hilde entblößte den großen Leib und befühlte ihn sanft.
    »Hier ist der Kopf, Margaret. Leg die Hand darauf, damit du ein Gespür dafür bekommst, denn später brauche ich vielleicht deine Hilfe.« Dann murmelte sie mehr zu sich: »Ja, da ist das Rückgrat, da die Gliedmaßen – aha, ein Bein…« Man konnte nicht anders, als die Geschicklichkeit ihrer kundigen Hände zu bewundern, wie sie so hin- und hermassierten und allmählich, nach und nach die Lage des Kindes veränderten, so als ob sie es unter einer schweren Decke bewegte. Es war jedoch nicht einfach. Lady Blanche stöhnte und umklammerte die Hände ihrer Damen.
    »Mit Kinderkriegen kenne ich mich recht gut aus«, murmelte die Frau eines Ritters. »Aber dergleichen habe ich noch nie gesehen. Wahrlich, eine weise Frau.«
    »Wenn ich das Kinderkriegen nicht schon hinter mir hätte, ich würde immer diese Frau dabeihaben wollen«, sagte eine andere Dame.
    »Ein Schatz«, flüsterte die erste.
    Blanche blickte ungerührt vor sich hin.
    »Mylady Blanche, ich muß Euch und Eure Damen bitten aufzupassen, falls das Kind seine Lage verändern sollte. Dann werden wir es zurückgeleiten, und so weiter, bis Eure Wehen es zur Welt bringen.« Lady Blanche blickte sie nur an. Zuweilen erinnerte sie mich an eine Eidechse, solch einen starren Blick hatte sie. Die anderen Damen nickten zustimmend.
    Von der Stunde an verließ Hilde Lady Blanches Raum nicht mehr, sie wartete darauf, daß die Wehen einsetzten, und ich selbst brachte ihr alles, was sie von draußen brauchte. Ein, zwei Damen waren ständig um Lady Blanche herum, um sie aufzuheitern, denn die Warterei hatte sie fahrig und gereizt gemacht. Hier, in ihrer Kemenate, hörte ich ein paar schöne, neue Balladen, die ich im Gedächtnis behielt, und Schach lernte ich auch, während ich nämlich den Damen beim Spielen zuschaute. Wenn ich an der Reihe war, zur Kurzweil beizutragen, dann wußte ich viele Geschichten, die sie noch nicht gehört hatten, denn die Geschichten und Lieder meiner Heimat waren in diesem Teil des Landes wenig bekannt. So verging die schwere Zeit, während wir auf den großen Augenblick warteten.
    Als ich eines Abends mit einem Krug Ale für Mutter Hilde die große Halle durchquerte, legte sich mir von hinten eine schwere Hand auf die Schulter.
    »Kleine Wehmutter«, sagte eine bekannte Stimme, »wenn du das Ale abgeliefert hast, hättest du dann einen Augenblick Zeit für unten? Jemand, den du kennst, ist in Not. Ich warte hier auf dich.«
    Eilends ging ich hinein und beriet mich – leider viel zu kurz und geheimnistuerisch – mit Mutter Hilde. Sollte ich gehen? Und, du lieber Gott, was sollte ich mitnehmen? Was sollte ich tun? Denn als Mädchen hatte ich zwar Geburten miterlebt, hatte aber bislang bei keiner geholfen, und als Richtschnur hatte ich bloß, was Hilde mich gelehrt hatte, jedoch keinerlei Praxis.
    »Geh, denn Gott der Herr fordert, daß wir uns erbarmen, wenn jemand in Not ist. Doch sei schnell und leise. Schneide die Nabelschnur erst durch, wenn sie aufgehört hat zu pulsieren. Bitte die Muttergottes, daß sie deine Hand leitet. Gib dich nicht zu irgend etwas Bösem her. Das reicht. Und der Herr im Himmel sei mit dir«, raunte sie. Und ich verließ das Zimmer mit den wenigen Dingen im Korb, die ich benötigte.
    Watt holte mich mit einer Fackel und einem weiteren bewaffneten Mann ab. Gemeinsam gingen wir schnell die verbotene Stiege hinab, durch den Wachraum und kamen auf den langen, dunklen Gang, wo wir Belotte zum ersten Mal begegnet waren. Dann ging es wieder einige gewundene Laufgänge hinab und weitere Treppenfluchten hinunter bis in die Tiefen des Bergfrieds. Große Räume voller staubiger Fässer und Bottiche mit Pökelfleisch gingen zu beiden Seiten ab. Hier irgendwo waren die oubliettes , diese entsetzlichen geschlossenen

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