Die Stimme
Zellen, wo Gefangene bis zu ihrem Tode gräßlich dahinschmachteten. Mir war, als griffen Skeletthände durch die verriegelten Türen nach mir, hinter denen sich in Wirklichkeit nichts anderes verbarg, als Fässer mit streng bewachtem Wein. Die Wahrheit war mir damals nicht bekannt: Sir Raymond hatte die Keller nicht gern voller Gefangener. Hinrichtungen waren ihm lieber.
Einen dieser Lagerräume betraten wir nun, und da bot sich mir ein schrecklicher Anblick. Über einer armseligen Strohschütte, auf der Belotte lag, hatte man an der Wand eine Fackel angebracht. Neben ihr stand ein weiterer Soldat; man hatte ihr die Arme gefesselt und ihr einen Knebel in den zerstörten Mund gestopft, damit sie nicht schrie und sich selbst verriet.
»Sie hat versucht, sich die Handgelenke aufzuschneiden«, murmelte ihr Aufpasser verlegen und deutete auf ihre verbundenen Arme.
»Gut«, sagte Watt. »Ich will keinen Anteil haben an einer Todsünde.«
Belotte hatte starke Wehen.
»Tretet zurück, Ihr beiden«, sagte ich. »Es ist ihr so schon peinlich genug.« Über ihrem Knebel starrte mich Belotte wütend an. Die beiden verzogen sich etwas, und ich schlug ihr Kleid zurück. Der Kopf war schon zu sehen. Fruchtwasser und eine blutige Flüssigkeit hatten einen großen Fleck auf der Strohschütte hinterlassen, auf der sie lag, desgleichen auf ihrer Kleidung. Wenn eine Wehe sie überfiel, stöhnte sie erstickt und gedämpft.
»Sie kann nicht atmen; sie braucht Luft«, sagte ich, und so zog ihr der Bogenschütze den Knebel heraus.
»Keinen Mucks mehr«, ermahnte er sie. »Es gilt unser aller Leben, weil wir dir Obdach gegeben haben, ebenso wie deins, weil du hier bist.«
»Ei, dein Leben«, zischte sie. »Ein paar Paternoster vielleicht oder eine Pilgerfahrt und einen Schrein küssen. Nur mein Leben und deine Unannehmlichkeiten, das meinst du doch.«
»Kein Wort mehr: tief einatmen, dann tut es nicht so weh«, sagte ich mahnend. Ihr Leib schnellte hoch, als ich den Kopf des Kindes herausgeleitete, dann den Rumpf und am Ende die sacht pulsierende Nabelschnur. Während ich auf die Nachgeburt wartete, zischte sie:
»Geschafft. Wehe, du zeigst mir das kleine Ungeheuer. Nimm es einfach und zerschmettere seinen Kopf an der Wand, und Schluß damit.«
Ich holte die Nachgeburt. Selten ist eine Geburt, bei der ich später dabei war, so glatt vor sich gegangen. Ich wartete, bis die Nabelschnur tot war, wie Hilde mir gesagt hatte, und band sie sorgsam ab, dann trennte ich sie durch. Das Kind erschauerte, fing fast ohne einen Schrei an zu atmen und lief dabei wunderschön rosig an. Ein Hauch goldenen Flaums schimmerte auf der pulsierenden, weichen Stelle oben auf seinem Kopf. Das ebenmäßige, winzige Gesichtchen war verzogen, so als wäre es verärgert darüber, daß man es von seinem bequemen Ruheplatz vertrieben hatte. Er ballte eine winzige, rosige Faust und öffnete sie wieder, während es seine Beinchen ruckartig zum Bauch hochzog. Die Soldaten, die sich mucksmäuschenstill verhalten hatten, grinsten und wiesen auf sein Geschlecht, denn es war ein Junge. Ich hielt das kleine Wesen im Arm und wollte es säubern, und da blickte ich es an – so hold und lieblich wie eine Rose – und mußte weinen. Ich konnte nicht anders. Ich hatte ein Kind geboren und es nie im Arm gehabt.
Belotte sah mich mit glitzernden, sarkastischen Augen an.
»Die kleine Miss Tugendsam, die Gefühlsduselige, jetzt kann sie sich so richtig schön ausheulen! Was brütest du nun schon wieder aus?«
»Ach, sei doch nicht so hart! Ich habe eine Tochter, die ist bei den Engeln im Himmel, und ich habe sie kein einziges Mal im Arm gehabt. Wie sollte ich da nicht weinen?«
»Du? Und ich hab dich für eine Jungfrau gehalten, du kleines Ehrpusselchen. Kann sein, du bist noch dümmer, als ich dachte.«
»Halt ihn nur einmal, mir zuliebe. Es ist so ein wunderschönes Kind!«
»Ihn? Ein Junge also? Armer, kleiner Kerl, er ist verloren.« Sie blickte mich prüfend an. »Hübsch, sagst du?«
»So schön wie die aufgehende Sonne.« Und ich hielt ihr das nackte, kleine Wesen hin.
Und wie ich so zusah, geschah etwas Seltsames, gleichsam ein Wunder. Das harte Gesicht wurde weich, und sie streckte die Arme aus. Unbeachtet rann ihr eine Träne übers zerstörte Gesicht. Als sie das Kind an sich drückte, begann dieses auf der Suche nach Milch herumzuschnüffeln. Von dieser hilflosen, kleinen Geste gerührt, öffnete sie ihr Kleid, um das Kind anzulegen. Und während sie den
Weitere Kostenlose Bücher