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Die Stimme

Titel: Die Stimme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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Winzling hungrig betrachtete, liefen ihr die Tränen haltlos übers Gesicht.
    »Ich glaube, sie behält ihn?« sagte Watt.
    »Ich glaube auch.«
    »Probleme über Probleme. Aber uns wird schon noch etwas einfallen«, sagte er kopfschüttelnd. Ich blieb nur solange, bis ich das Kindchen gewindelt hatte, dann verließ ich sie so rasch und still, wie man mir geraten hatte.
    Es kam mir vor, als beträte ich eine andere Welt, als man mich vor Lady Blanches Zimmer abgeliefert hatte. Hilde kam mir an der Tür entgegen. Drinnen schlief alles. »Geschafft?« fragte sie.
    »Ja, es ist vorbei.«
    »Das Kind lebt?«
    »Es lebt; es ist schön.« Ich fiel ihr um den Hals und weinte: »O Mutter Hilde, das Schicksal ist so ungerecht! Diese gräßliche Frau hat einen Sohn so schön wie die Sterne und der Mond, und ich habe gar keins!«
    »Schsch, schsch, stell dich nicht an. Deine Zeit kommt schon noch. Ich habe Träume und Vorzeichen gehabt, von denen ich dir erst erzähle, wenn die Zeit dafür reif ist.«
    »Ach, was sollen mir Träume! Ich wollte, dieses schöne Kind gehörte mir, mir allein!«
    Ich raste vor Eifersucht, doch Hilde beruhigte mich und zwang mich zu schlafen.

    Ob Kinder immer nachts kommen, um uns zu ärgern? Denn zu Vigil, drei Stunden vor Sonnenaufgang, rührte sich Lady Blanche im Schlaf und stöhnte. Und schon setzte sie sich kerzengrade im Bett auf, und das Zimmer schwirrte vor Betriebsamkeit, denn Lady Blanches Fruchtblase war geplatzt. Endlich hatten die echten Wehen eingesetzt.
    Man machte Wasser warm und brachte saubere Leinenhandtücher. Lady Blanche wurde auf den kunstvoll verzierten Gebärstuhl gesetzt, und bei jeder Wehe umklammerte sie dessen große, geschnitzte Griffe. Man nahm das Tuch von der schönen Wiege und stellte sie auf den Ehrenplatz. Kostbare Wickelbänder und ein prächtiges, mit winzigen Perlen besticktes Mützchen wurden bereitgelegt. Im Zimmer verbreitete sich der starke und satte Duft von Bienenwachskerzen, denn Lady Blanche sollte sich in dieser heiklen Zeit nicht an dem Gestank der Unschlittkerzen stören. Für einen furchtbaren Augenblick wollte mir schier der Mut sinken. Was war, wenn diese ganzen Vorbereitungen wieder nur einem Mädchen galten? Lady Blanche fing an zu schreien. Sie war zu alt zum Kinderkriegen: es würde nicht leicht werden. Mutter Hilde redete beruhigend auf sie ein:
    »Bei jeder Wehe tief atmen – begegnet ihr mit einem Atemzug und überwindet sie!« Aber es half nichts, Lady Blanche hatte Angst und war hysterisch.
    »Weh mir, daß ich solche Schmerzen erdulden muß!« schrie sie. »Frauen sind nur zum Leiden geboren! O, unsägliches Geschick, es zerreißt mich, es bringt mich um!« Diese Worte paßten eher zu einer Frau, die noch nie geboren hatte, als zu einer, die bereits viele Male Mutter war. Jetzt, da ich älter bin, weiß ich, daß Angst der schlimmste Feind einer leichten Geburt ist und daß Lady Blanche aus gutem Grund Todesängste ausstand. Als der Morgen heraufdämmerte, bekam man Sir Raymond, der in tiefem, weinseligen Schlummer gelegen hatte, endlich wach.
    »Na und?« knurrte er. »Laßt mich in Ruhe, bis mein Sohn geboren ist. Das wäre eine Nachricht, die das Aufwecken verlohnte.«
    In der Morgendämmerung holte man auch die Amme aus dem Dorf. Es war ein junges Mädchen mit seidigem Blondhaar, blöden, blauen Augen und Brüsten, so groß wie das Euter einer Milchkuh. Ihre einfältigen Augen strahlten ob all der Herrlichkeiten auf der Burg und der Pracht der Stellung, die sie hier erwartete.
    »Hmm«, bemerkte Hilde nur für mich. »Gut und nicht so gut.«
    »Was willst du damit sagen?« fragte ich.
    »Gut, weil sie sauber und jung ist und genug Milch für Zwillinge hat. Schlecht, weil sie so dumm ist wie der Tag lang. Denn mit der Milch nehmen Kinder auch die Eigenschaften der Amme auf. Ist sie verderbt, werden sie verderbt. Ist sie dumm, werden auch sie dumm. Obwohl Dummheit bei hochgestellten Familien nicht als Makel gilt.«
    »Aber Mutter Hilde?« Mir schoß plötzlich ein Gedanke durch den Kopf. »Wo ist denn ihr Kind? Ist das gestorben? Wie kommt sie bloß zu der ganzen Milch?«
    »Das wird, soviel ich weiß, von der Großmutter mit der Flasche und Ziegen- oder Eselsmilch aufgezogen. Es ist Winter, also dürfte es nicht zu gefährlich sein. Im Sommer sterben solche Säuglinge immer am Durchfall. Ich nenne es ›Sommerkrankheit‹. Der fallen viele Kinder zum Opfer.«
    »Dann soll also ihr eigenes Kind die Eigenschaften einer Eselin oder

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