Die Stimme
Ziege annehmen? Und die Großmutter duldet das? Wenn das nicht furchtbar ist!«
»Meistens gar nicht so furchtbar. Die ganze Familie genießt dadurch große Vorteile. Das Mädchen wird immer im Luxus leben, das feinste Essen und die besten Getränke bekommen, damit sie gute Milch gibt. Die Belohnungen, welche man als Amme eines Erben aus großem Haus erwarten darf, kann man gar nicht alle aufzählen! Wenn sie Glück hat, ist das der Anfang zum Aufstieg. Wenn dem Kind jedoch etwas zustößt… nun, wir wissen ja beide, daß Sir Raymond nicht gerade der Großzügigste ist.« Ich bekreuzigte mich.
»Laß dem Kind nichts zustoßen«, betete ich, »um unser aller willen.«
Der Morgen kam und ging, und immer noch lag Lady Blanche in qualvollen Wehen. Mittlerweile war sie vom Schreien und Jammern so erschöpft, daß sie jede neue Wehe mit der dumpfen Miene eines Ochsen erwartete, der geschlachtet werden soll.
»Mutter Hilde, Mutter Hilde«, die Rittersfrau klang besorgt. »Die Wehen bringen keinen Fortschritt mehr. Der Kopf kommt nicht weiter.«
»Ihr Körper verliert an Kraft«, gab Hilde flüsternd Antwort. »Spürt Ihr das nicht? Die Wehen werden immer schwächer.«
»Ganz wie ich mir schon dachte. Könnt Ihr denn nichts tun? Wenn es so weitergeht, verlieren wir beide, den Sohn unseres Herrn und seine Frau, und dann kennt sein Zorn keine Grenzen.«
»Das ist mir klar. Wer läuft wohl größere Gefahr als die Wehmutter? Ich weiß nur zu gut, daß ich hier eine Fremde bin.«
»Was sollen wir nur machen?« Ängstlich rang die Dame die Hände.
Gleichsam als Antwort darauf betrat Vater Denys die Kemenate.
» Pax vobiscum «, sagte er und spendete den versammelten Frauen seinen Segen.
»Man hat mir berichtet, daß der überaus kostbare Sohn von Mylord durch ungeschickte, unwissende Wehmütter in Gefahr gebracht worden ist!« Er nahm seinem Gehilfen einen Kasten mit einer schauerlichen Reliquie ab, dazu ein Kruzifix und was dergleichen Zubehör mehr ist. Nachdem er uns allen den glänzenden, silbernen Reliquienschrein mit dem verschrumpelten, mumifizierten Fötus darin gezeigt hatte, gab er ihn an den Hilfspriester weiter. Lady Blanche verdrehte entsetzt die Augen, ihr Mund bewegte sich tonlos. Vater Denys nahm das Weihrauchgefäß, und nachdem er den Weihrauch angezündet hatte, verräucherte er großzügig das Zimmer und betete laut auf Latein.
Jetzt hatte Lady Blanche die Stimme wiedergefunden.
»Meine Sterberiten? Seid Ihr gekommen, um mir die letzte Ölung zu erteilen?« flüsterte sie angstvoll.
»Fürchtet Euch nicht, wohledle Frau«, antwortete Vater Denys glattzüngig, »ich bin gekommen, um den Himmel um das Leben Eures Sohnes anzuflehen. Und wenn Eure Sünden und die Sünden aller hier im Raum –« und dabei blickte er sich grimmig um – »nicht zu groß sind, dann wird er ihn und Euch verschonen.« Dann schon betete er wieder auf Latein vor sich hin. Die anwesenden Damen fielen auf die Knie, zogen ihren Rosenkranz hervor und machten sich ans Beten. Er strahlte, als sich rings um ihn das Gemurmel frommer, betender Stimmen erhob.
Mutter Hilde war erbleicht und zog mich beiseite. Es war klar, daß Vater Denys schon die Bühne für unseren Schuldspruch herrichtete, falls es schiefgehen sollte. Außer sich flüsterte sie mir zu:
»Wir haben keine Wahl mehr. Ich muß das dunkle Pulver verwenden. Bring mir das Kästchen dort aus dem Korb mit meinen Sachen, und dann geh und hole mir von unten Würzwein. Ich glaube, ich kann die Wehen wieder in Gang bringen, doch sie darf das bittere Pulver nicht durchschmecken, sonst nimmt sie es vielleicht nicht ein. Laß es Vater Denys nicht sehen; wenn er auch nur den leisesten Verdacht schöpft, was wir verwendet haben, dann ist es um uns geschehen.« Als Vater Denys mir den Rücken zukehrte, schlüpfte ich so still und rasch aus der offenen Tür, als ob der leibhaftige Tod mir auf den Fersen säße.
Als ich eilenden Schrittes die Halle durchquerte, fing mich Watt ab und vertrat mir den Weg.
»Laßt mich durch«, rief ich, »ich habe keine Zeit zu verlieren!«
»Kleine Wehmutter, Ihr müßt kommen, es geht sehr schlecht.« Und dabei vertrat er mir immer noch den Weg.
»Kommt mit und erzählt rasch.«
»Die arme Belotte hat Fieber bekommen. Sie liegt auf den Tod. Ich habe nach dem Priester geschickt und um die letzte Ölung für einen sterbenden Sünder gebeten, aber der hat sich geweigert zu kommen und hat gesagt, dann müßten die Sünder eben in Sünde sterben,
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