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Die Stimme

Titel: Die Stimme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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hörst du mich? Dein Sohn ist nicht verloren. Ich nehme ihn. Wenn ich Geld habe, lasse ich eine Messe für deine Seele lesen –«
    Aber jetzt konnte sie wieder klar denken. Ich fragte mich, ob die Lebenskraft, die sie mir ausgesogen, sie gekräftigt hatte.
    »O, du bist es, Miss Tugendsam, die Wehmutter. Ich dachte schon, der Priester wäre gekommen. Da! Sieh dir mein Kind an! Es hat das Gesicht eines Engels. Ich glaube, ich muß sterben. Kannst du dich um ihn kümmern? Ich glaube, wenn ich am Leben geblieben wäre, ich hätte ihn geliebt – und Belotte liebt keinen Mann auf Erden! Ich weiß, du hast ihn mir geneidet. So nimm ihn denn jetzt!«
    O, wie schämte ich mich meines schäbigen Neides! Einer armen Frau ihr einziges Glück zu neiden! Ich fing an zu weinen, doch nicht aus Kummer, sondern weil ich mich so schämte.
    »Etwas Mut, du Jammerlappen! Mich solltest du beweinen, denn ich bin verloren und verdammt.«
    »Nicht verdammt, nein, nein. Jesus vergibt allen –«
    Aber ihre Augen sahen nicht mich an; sie blickten auf jemand hinter mir. Ich vernahm ein Geräusch und fuhr herum. Es war Hilde! »Wie bist du hierhergekommen?« fragte ich.
    »Die Frage, meine Liebe, ist nicht wie, sondern warum. Dem Kind oben geht es schlechter. Bislang sehe nur ich das, doch bald wissen es alle. Es ist wohl das Klügste, wenn wir aufbrechen, mein Mädchen. Ich habe einen Mann bestochen, daß er uns heimlich das Tor öffnet. Gegen Morgen sind wir dann schon weit.«
    »Hilde, ich verstehe nicht, ich dachte, dem Kind ginge es gut.«
    Belottes Augen funkelten ingrimmig vergnügt.
    »Margaret, Margaret, muß ich dir denn mein Leben lang erklären, was doch auf der Hand liegt? Das arme Würmchen hat nie viel getaugt – das tun sie oft nicht, wenn sie so voller dunklem Zeug auf die Welt kommen. Und nun hat er auch noch alles ausgespuckt, was ihm die Amme gegeben hat. Kein Essen oben rein, kein Scheiß unten raus. Kenn ich alles. Die Eingeweide sind nicht ausgebildet. Vielleicht hat es überhaupt keine. Wer weiß? Lord Raymond ist ein Aufschneider, aber einen kräftigen Sohn hat er noch nie zustandegebracht. Warum also keinen Sohn ohne Eingeweide für einen Mann ohne Herz? Das Kind ist, glaube ich, verloren. Und so die Wehmütter und die Amme, es sei denn, wir sind gegen Morgen schon weit von hier.«
    Belotte lachte ein schrilles, bitteres Lachen.
    »Gut, dann habe ja nicht nur ich allein Pech! Viel Vergnügen, Miss Tugendsam!«
    Durch ihr Gelächter wurde Hilde aufmerksam auf sie und das blühende, kleine Wesen neben ihr, das friedlich schlief.
    »O!« entfuhr es ihr fast gegen ihren Willen. »Was für ein Prachtkind! Margaret hat recht gehabt.« Dann trat ein abwesender, berechnender Ausdruck in ihre Augen. »Vielleicht ist doch noch nicht alles verloren. Belotte, hättest du für deinen Sohn gern ein schönes Heim?« Bei letzterem klang ihre Stimme eindringlich und vielsagend, und sie warf einen Blick in meine Richtung.
    »Aber ja doch«, antwortete Belotte mit einem gleichermaßen scharfen Blick, und ihre Stimme klang verschlagen und amüsiert.
    »Ich kenne eine Frau aus dem Dorf, die ihn an der eigenen Brust stillen wird, und das besser als ihr eigenes, geliebtes Kind«, sagte Hilde mit einem weiteren vielsagenden Blick.
    »O ja«, fügte ich ernsthaft hinzu, »jede Frau wäre froh, wenn sie solch einen Sohn hätte.«
    Belotte lachte stumm.
    »Dann soll diese Frau aus dem Dorf ihn stillen, solange er dabei ein schönes Heim hat.«
    Hilde hob das Kind hoch, und die Mutter seufzte kurz auf.
    »Wenn ich nicht sterbe, gebt mir Nachricht, wie er sich macht.«
    »Aber gern, Belotte«, erwiderte Mutter Hilde.
    Ich zupfte sie am Ärmel:
    »Hilde, Hilde, sollten wir uns nicht lieber beeilen? Und wo ist Peter? Wir dürfen nicht länger verweilen.«
    »Peter sitzt bei Moll und wartet auf uns. Aber ich glaube, jetzt ist keine Eile mehr vonnöten. Sei so lieb und geh zu ihm und sag ihm, er soll wieder absatteln. Ich glaube, mir ist eine Idee gekommen, wie wir das arme, kränkelnde Würmchen kurieren können.« Und sachte, ganz sacht, wickelte sie das kleine Wesen in den weichen Saum ihres Umhangs und barg es an ihrem ausladendem Busen.
    Ich eilte nach oben, um mich mit meinem Begleiter zu treffen und kehrte erst zu Hilde zurück, als ich alle Aufträge erledigt hatte. Mucksmäuschenstill kam ich zurück, aber im Zimmer schlief alles bis auf die schniefende Amme, die mir den Weg zum Vorzimmer vertrat.
    »Da nicht rein«, flüsterte sie,

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