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Die Stimme

Titel: Die Stimme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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sagte:
    »Du armes, armes Kind! Nicht einmal zwei Tage hast du es auf dieser bösen Erde ausgehalten! Gott nehme dich in seinen Schoß und schare dich zu seinen Engeln.«
    Sie machte auf seiner Stirn das Zeichen des Kreuzes und legte es Belotte in die toten Arme. Aber ehe sie sein Gesichtchen im Ärmel der Toten verbarg, erhaschte ich im kleinen Lichtkreis der Kerze einen klaren Blick darauf. Der Schädel lief über der Stirn lang, schräg und spitz zu, die Nase war zur Seite gedrückt und ein großer, blauer Fleck bedeckte ein Auge…

    Bruder Gregory setzte jäh die Feder ab.
    »Was Ihr da begangen habt, ist eine arge, arge Sünde! Schämt Ihr Euch denn nicht, schämt Ihr Euch denn gar nicht?«
    Margaret blickte ihm in die Augen. Trotzig hatte sie das Kinn vorgereckt.
    »Ich kann nichts Sündhaftes daran finden«, sagte sie fest. »Für mich ist das nichts Unehrenhaftes, denn es geschah aus Loyalität und Liebe.«
    Bruder Gregory funkelte sie böse an.
    »Gerade habt Ihr mit Euren eigenen Worten den Beweis dafür geliefert, daß Frauen unehrenhaft, hinterlistig, verschlagen und verlogen sind. Ihr habt kein Recht, mir mit Ehre zu kommen. Ihr wißt ja nicht einmal, was das ist.«
    »Hört mich zu Ende an!« sagte Margaret bestimmt, »denn ich habe über diese Angelegenheit mehr nachgedacht als Ihr, und Ihr seid hitzig, voreilig und selbstgerecht. Fürwahr, Männer reden ohne nachzudenken!«
    »Hmpf! Ich kann mir nicht vorstellen, daß selbst der sentimentalste Trottel an dem, was Ihr in jener Nacht getan habt, etwas Gutes finden könnte!« Bruder Gregory zog den Mund angeekelt nach unten und die dunklen Augenbrauen zornig zusammen.
    »Ihr achtet nicht auf die geringfügigen Dinge, Bruder Gregory, so wie ich es nach und nach gelernt habe, und dadurch entgeht Euch vieles. Man beachte zunächst, daß Hilde die Tat so ausführte, daß niemand mit hineingezogen wurde. Welche Sünde sie auch immer beging, was sie dabei auch riskierte, sie nahm es allein auf sich. Ein wenig Rauch und ein bißchen Salbe, und sogar ihre Komplizen blieben im Dunkeln. Ich finde, das war ehrenhaft.«
    »Das zeigt nur, daß sie hinterlistig war. Ihr Plan lief doch darauf hinaus, eine Schar blöder Frauen davon abzuhalten, daß sie zu ihrem Beichtvater rannten; denn so würde die Wahrheit niemals ans Licht kommen.«
    »Und welche Wahrheit ist das?«
    »Daß man einen verderbten Bastard mit gemeinem Blut an Stelle eines Erben von edlem Blut untergeschoben hat.«
    »Genau das habe ich nie gesagt. Ich habe gesagt, was ich gesehen habe und was ich glaube, doch da ich nicht gesehen habe, daß die Tat ausgeführt wurde, könnte ich nichts beweisen. Und wenn es denn wahr wäre, ich kann darin keine Sünde erblicken. Hatte schließlich Sir Raymond nicht damit gedroht, allerlei große Sünden zu begehen, wenn er nach Gottes Ratschluß keinen lebenden Sohn haben sollte? Hätte er etwa nicht das Sakrament der Ehe entweiht und in seinem fruchtlosen, sündhaften Aufbegehren gegen den Willen Gottes viele, nicht wieder gutzumachende Gewalttätigkeiten begangen? Und wurde er etwa nicht davor bewahrt, schreckliche Sünden auf sich zu laden?«
    »Ihr argumentiert wie ein Scholastiker! An Euch ist der Gelehrsamkeit ein Kopf verlorengegangen, da Ihr als Frau geboren wurdet.« Bruder Gregory hatte es noch nie über sich gebracht, einen Disput abzubrechen, denn er liebte den Krieg mit Worten mehr als jede Schlacht mit Schwertern; zwar war sein Zorn schon am Verrauchen, doch seine Streitlust verleitete ihn weiterzumachen.
    »Was Sünde ist, Weib, bestimmt die Kirche, und weder Ihr noch sonst irgendjemand«, ereiferte er sich.
    »Das sagt Ihr; doch für ein bißchen Geld kann ein Mann seine Ehe aus formalen Gründen für ungültig erklären lassen. Für den Preis eines Ablaßbriefes darf er Morde, Inzest und schwere Körperverletzung begehen. Ich aber sage Euch, die Sünde bleibt sich immer gleich und ist eine Angelegenheit zwischen Gott und dem Menschen selbst, und kein Kardinal, der herumhurt und sich die Vergebung bezahlen läßt, kann sie mit einer Handbewegung wegwischen.«
    »Wenn Ihr das wirklich denkt, Ihr eingebildete, kleine Törin, dann werdet Ihr brennen!« donnerte Bruder Gregory zornig. »Ihr leugnet nämlich, daß Christi Stellvertreter auf Erden die Macht haben, Sünden zu vergeben.«
    »Christus hat Sünden nicht für Geld vergeben, und ich kann mich auch nicht erinnern, daß er gesagt hätte: ›Selig sind die Reichen.‹ Was gibt diesen Stellvertretern

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