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Die Stimme

Titel: Die Stimme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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er hätte zu tun. Sie sagt, sie will niemand haben als Euch.«
    »Watt, ich kann nur kommen, wenn es geht, denn Mylords Kind ist in Gefahr und man hat mich nach einer Arznei geschickt.« Er sah schuldbewußt aus. »Sagt ihr, daß ich komme, vielleicht gegen Abend.« Ich eilte fort und kehrte mit dem Erforderlichen zurück. Mittlerweile war Vater Denys in die Kapelle gegangen, um eine Extramesse zu lesen, und die Damen hatten sich wie besorgte Glucken um ihre Herrin geschart. Mit der ungerührten Miene eines Standbildes rührte Mutter Hilde das Getränk um und mischte eine Dosis von etwas dunkel und widerlich Aussehendem aus dem gut verschlossenen Kästchen darunter, so daß es niemand außer mir sah.
    »Meine Damen, würdet Ihr bitte Eurer Herrin behilflich sein, dieses einzunehmen, denn es ist eine Arznei, die schon oftmals in solchen Fällen geholfen hat.« Dann drängte sie Lady Blanche: »Trinkt das, trinkt das, davon kommt Ihr wieder zu Kräften.« Lady Blanche trank matt und brachte nur die Hälfte hinunter, ehe sie wieder ihren Damen in die Arme sank.
    »Jetzt heißt es warten, aber nicht lange«, verkündete Mutter Hilde. Und da die Abendschatten während unserer Arbeit länger geworden waren, zündeten die Damen erneut Kerzen an, verwandelten den Raum in eine Laube aus flackerndem Licht und erfüllten ihn mit dem satten, süßen Duft schmelzenden Bienenwachses.
    Auf einmal stieß Lady Blanche einen Schrei aus.
    »Es kommt, endlich kommt es!« jubelten die Damen, und so war es in der Tat. Nach ein paar kräftigen Wehen wurde der Scheitel des Kindes sichtbar. Hildes kundige Hände zogen sanft, und der Kopf erschien, doch mit dem Gesicht nach unten. Mit den Schultern zugleich kam grünlich-schwarzer Schleim heraus, den die Damen in ihrer Freude kaum bemerkten, doch ich sah, daß Hildes Gesicht wieder blaß wurde. Bald war der ganze Leib geboren, und Jubel erscholl, als sich herausstellte, daß es ein Junge war.
    »Schickt nach Mylord! Es ist ein Sohn!« rief die Rittersfrau, und ehe noch die Nachgeburt geboren war, schallte und hallte die große Halle schon vor Freudenrufen. Bei all dem Jubel und der Umarmerei im Zimmer, merkte außer mir kaum jemand, daß das Kind nicht atmete. Hilde hielt es kopfüber, holte ihm mit dem Finger eine scheußliche, dunkle Masse aus dem Mund und säuberte die Lungen. Das Kind war blau. Mutter Hilde legte es hin und atmete ihm sanft und in gleichbleibendem Rhythmus in Mund und Nase. Nach und nach wurde der winzige Leib rosig. Hilde wirkte erleichtert, als sie aufhörte, das Kind zu beatmen.
    »Mein Sohn, wo ist mein Sohn?« rief Lady Blanche ungeachtet des Stimmengewirrs.
    »Ein schöner Knabe«, sagte Hilde, nahm das Kind auf den Arm und zeigte es ihr so, daß sein Geschlecht deutlich zu sehen war, das Gesichtchen jedoch im Schatten blieb.
    Und daran hatte Hilde gut getan! Denn welche Mutter wäre wohl nicht über dieses erbarmungswürdige Gesichtchen erschrocken gewesen? Der von den langen Wehen deformierte Kopf lief nach einer Seite schräg und spitz zu. Eine arge Schwellung verschloß ihm die Augen und breitete sich über das ganze Gesicht aus. Die Nase war nach einer Seite plattgedrückt. Von dem purpurfarbenen Schädel hoben sich ein paar farblose Härchen ab. Der ganze Leib wies ein kränkliches, fahles, bläuliches Rosa unter dem käsigen Belag auf, mit dem alle Kinder auf die Welt kommen.
    »Mein Sohn, mein Sohn! Ich will meinen Sohn sehen!« dröhnte Lord Raymonds Stimme von der Halle her. Schnellen Schrittes kam er ins Zimmer gestürmt und vertrat Hilde, die das Kind auf dem Arm hatte, den Weg.
    »Ha! Tatsächlich ein Junge! Und noch dazu mit einer prächtigen Ausrüstung!« Er schlug sich aufs Knie. »Aber was ist mit seinem Kopf? Er sieht aus, als ob er schon eine Schlacht geschlagen hätte!«
    »Das ist normal nach einer langen Entbindung, Mylord. Nach ein paar Tagen verschwindet die Schwellung, und das Köpfchen rundet sich von ganz allein wieder.«
    Der Säugling gab einen erbärmlichen Wimmerlaut von sich.
    »Ha! Mein Sohn hat Durst! Amme!« brüllte er. »Stille meinen Sohn gut, und wenn er gedeiht, so soll es dein Schade nicht sein«, sagte er zu ihr. »Aber wehe, du wagst es, ihn verhungern zu lassen –« er beugte sich vor und fixierte ihr blödes Gesicht mit glitzernden, boshaften Augen. »Wenn du ihn mit dünner, schlechter Milch betrügst, dann verfahre ich mit dir wie mit deiner Vorgängerin.« Die arme Närrin verdrehte die Augen und fing an zu

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