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Die Stimme

Titel: Die Stimme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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»Mutter Hilde macht gerade eine schwierige Behandlung mit dem armen Wurm! Man darf sie nicht stören, sonst schlägt es nicht an. O, Mutter Margaret, dem Kind geht es so schlecht, es atmet kaum noch! Wenn sie es nicht rettet, wird mich Mylord für meine schlechte Milch bestrafen. O, bitte, bitte, weckt mir niemand auf und stört sie nicht, sonst sind wir alle verloren!«
    Ich blieb wie angewurzelt vor der Amme stehen und bekreuzigte mich.
    »Ich setze allergrößtes Zutrauen in Mutter Hildes Behandlung. Ich kenne keine weisere Frau. Wenn das Kind durch menschliche Macht überhaupt zu retten ist, dann durch sie.« Die verzweifelte Amme klammerte sich schweigend an meinen Arm. Ich aber verwunderte mich. Drang da nicht etwa ein seltsamer Geruch aus dem Zimmer, so als ob jemand Kräuter ins Feuer geworfen hätte? Die Amme riß die Augen auf. Es kam uns vor, als ob da drinnen im Zimmer mit einem mächtigen Zauber gearbeitet wurde. So warteten wir im Dunkeln, und es schien eine Ewigkeit zu dauern, was doch nur ein paar Minuten gewesen sein können.
    Mutter Hilde kam geräuschlos zur Tür des Vorzimmers, den Umhang umgeworfen und am Arm ihren Korb, das schlafende Kind auf dem anderen. Als sie der Amme das Kind im Dunkeln übergab, wisperte sie:
    »Geschafft. Wenn das Kind aufwacht, vergiß ja nicht, dir zuerst die Salbe, die ich dir zur Verbesserung deiner Milch gegeben habe, auf die Brust zu tun und ihn dann gut zu stillen. Er wird sehr hungrig sein, denn seine Schwellungen sind abgeheilt, jetzt muß er bloß noch durch gute Nahrung zu Kräften kommen. Aber wehe, du erzählst jemand von dieser Behandlung, denn sie geschah mit Hilfe übernatürlicher Kräfte, und euch beide, dich und das Kind holt der Teufel, wenn sich herausstellt, daß du geredet hast. Du brauchst bloß zu sagen, daß du so gutes Essen nicht gewohnt warst und daß es deine Milch so außergewöhnlich nahrhaft gemacht hat.« Mutter Hilde warf der in Ehrfurcht erstarrten Amme einen schlauen Blick zu.
    »Und jetzt laßt mich beide allein«, sagte Mutter Hilde, »ich muß noch einer Pflicht nachkommen.« Dann ging sie auf leisen, leisen Sohlen durch den Raum, ergriff eine Kerze und zündete sie an der glühenden Kohle des Feuers in der großen Halle an. »Wehe, du gehst mir nach, Margaret, diesen Gang muß ich allein tun.« Sie fuhr herum und blickte mich so grimmig an, daß ich mich fragte, womit ich sie wohl gekränkt haben mochte. Ich blieb also stehen und sah ihr nach, wie sie sich mit der brennenden Kerze in der Hand geräuschlos durch die Schlafenden in der großen Halle schlich. Mir war klar, daß ich ihr folgen mußte. Hilde neigte dazu, geradewegs in das Maul des Löwen zu laufen, darum würde sie vielleicht meine Hilfe brauchen. Aber diese fromme Empfindung war leider nur ein Vorwand für meine gewaltige Neugier und einen wachsenden Verdacht.
    Ich sah, wie sie die enge Stiege hinunterging und folgte ihr in einiger Entfernung, auch wenn ich mir dabei wie eine Verräterin vorkam. Noch eine Treppenflucht und noch eine, dann ging mir auf, daß wir uns unter dem Wachraum befanden. Da mich nur das ferne Licht der Kerze leitete, mußte ich mich vorsichtig die Stufen hinuntertasten, denn sie waren dunkel, glitschig und hatten keinen Handlauf. Als wir ganz unten im Keller angekommen waren, bestätigte sich mein Verdacht. Wie eine Katze schlich ich ihr auf leisen Pfoten nach und tastete mich dabei an der Wand entlang. Als das Licht flackerte und in dem staubigen Vorratsraum verschwand, spähte ich stumm hinein und sah Mutter Hilde vor der Strohschütte von Belotte knien. Als sie ihr den Kopf befühlte und auf ihren Herzschlag lauschte, merkte sie, daß die Frau zwar bewußtlos war, aber immer noch lebte. Hilde stellte ihre Kerze behutsam am Kopfende ab, indem sie diese in einer kleinen Wachslache auf dem Boden festklebte.
    »Geschafft«, raunte sie der noch atmenden Frau ins Ohr. »Geh in Frieden auf deine lange Reise.« War es Einbildung? Oder sah ich wirklich, wie sich Belottes Kopf bewegte und es in ihren Augen aufflackerte, bevor sie den letzten keuchenden Atemzug tat? Der Mund bewegte sich ein wenig, die gräßlichen Zähne teilten sich – und sie war tot!
    Mutter Hilde sprach ein Gebet, wie es kürzer nicht ging, und zog dann einen entsetzlichen Gegenstand aus ihrem Korb. Es war die schlaffe, blaue, stille Gestalt eines gewindelten Säuglings! Ihr Gesicht sah tausend Jahre alt aus, als sie in feierlichem und ruhigem Ton zu dem armseligen Bündel

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