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Die Stimmen des Flusses

Die Stimmen des Flusses

Titel: Die Stimmen des Flusses Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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Torreta zu wenden, ein Stück Papier aus der Tasche und reichte es Oriol.
    »Was ist das?«
    »Lies selbst.«
    Er entfaltete das Papier und las im flackernden Schein des Feuerzeugs des Leutnants: Placeta de la Font drei, Barcelona.
    »Was ist das?«
    »Dort leben deine Frau und deine Tochter.«
    Placeta de la Font drei, Barcelona. Dort leben Rosa und meine Tochter, deren Namen ich nicht kenne.
    »Am Sonntag fahre ich hin.«
    »Nein. Wir sagen dir Bescheid. Nicht vor Weihnachten.«
    »Nicht vor Weihnachten?« Er zählte an den Fingern ab: »Ein, zwei, drei, vier, fünf Monate soll ich warten? Du bist nicht bei Trost.«
    »Du bist nicht bei Trost, wenn du nicht auf mich hörst.«
    »Wie soll ich denn wissen, ob ich an Weihnachten noch am Leben bin?«
    »Das weißt du nicht. Und verbrenn das Papier. Sie soll nicht unseretwegen in Gefahr geraten.«
    Placeta de la Font drei, Barcelona. Eine Pension? Warum bist du vor mir weggelaufen, Rosa, ich leiste doch schon Buße.
    »Placeta de la Font drei, Barcelona«, murmelte er, während er das Papier auf dem Tellerchen verbrannte, das ihnen als Aschenbecher diente. Und weil ihm der Gedanke daran unerträglich war, sagte er, immer noch nach draußen starrend: »Targa macht mich nervös. Ich glaube, er ahnt etwas.«
    Leutnant Marcó gab ein mürrisches Brummen von sich, und Oriol, der sich über den Tonfall ärgerte, fuhr ihn an: »Und ihr seid zu blöd, ihn umzubringen.«
    »Die anderen haben mich gewarnt, ich sollte dir lieber nicht sagen, wo deine Frau wohnt.«
    »Entschuldige.«
    Mühsam riß er sich zusammen.
    Leutnant Marcó holte Luft, und beim Ausatmen sagte er: »Dieser Targa hat mehr Glück als Verstand.«
    Wieder warteten sie eine Weile. Das ferne Gebell eines Hundes durchschnitt die Nacht. Plötzlich sagte Leutnant Marcó unvermittelt: »Der MI6 beglückwünscht dich zu der Idee mit der Operation Morrot. Wir haben unser Ziel erreicht.«
    »Das war doch leicht. Aber ich habe Angst. Ich mache mir in die Hosen vor Angst.«
    »Wir alle haben Angst, aber wir wollen Leute wie dich und wie den, der am Torreta Blinkzeichen gibt. Wie den, derihm die Informationen zukommen läßt. Eliot ist zurückgekehrt, um die Leute im Inland neu zu organisieren.«
    »Arbeitest du für die Engländer?«
    »Wir arbeiten für die demokratischen Kräfte, egal, woher sie kommen.« Er machte eine lange Pause. »Ja, wir arbeiten für die Alliierten.«
    Oriol wandte sich vom Fenster ab und tastete nach der Schale mit dem Trockenobst. Er nahm sich eine Handvoll alter Haselnüsse und kehrte zu seinem Gefährten zurück.
    »Wann werde ich Eliot kennenlernen?«
    »Du kennst ihn schon.«
    »Das bist doch nicht etwa du?« Er gab ihm ein paar Haselnüsse.
    »Nein. Du bist es.«
    Oriol schwieg eine ganze Weile ratlos.
    »Das kann nicht sein: Eliot ist seit zwei Jahren aktiv.«
    »Du bist der dritte Eliot. Eliot ist unser jeweiliger Verbindungsmann.«
    Ich bin Eliot. Das heißt, niemand ist Eliot. Ich, ein Dorfschullehrer, verachtet von Frau und Kind, der eine Affäre mit einer Frau hat, die nicht die Richtige für ihn ist, weil sie zweifelsohne auf der anderen Seite steht, verfüge also, wie mir allgemein nachgesagt wird, über ein geradezu legendäres Organisationstalent und die Fähigkeit, überall zugleich zu sein.
    »Aber ich rühre mich nicht von der Stelle, und Eliot ist …«
    »Ein paar von uns sind ebenfalls Eliot. Nicht einmal wir selbst wissen genau, wer er ist. Eines Tages haben wir das Abzeichen mit der roten Glocke erfunden. Ein andermal … Es geht darum, das Militär auf Trab zu halten.«
    »Und was muß ich als Eliot tun?«
    »Im Augenblick am Leben bleiben.«
    »Aha.«
    »Ja. Du bist nun seit sieben Monaten Eliot. Seit sieben Monaten ist die Schule eine Insel. Sie ist berühmt.«
    »Wofür?«
    »Fürs Überleben. Noch nie hat eine Insel sich so lange gehalten.«
    »Aha.«
    »Und auch kein Eliot. Der Generalstab sagt, wenn du es schaffst, weiter zu überleben, werden wir dich mit neuen Aufgaben füllen.«
    Der Maquis, der MI6 und die Alliierten werden mich also mit neuen Aufgaben füllen wie eine Weihnachtsgans. Als wüßten sie nicht, daß ich nichts weiter bin als ein Lehrer, der einmal Landschaften gemalt hat, aber nun, da er immer im Ausnahmezustand lebt, Porträts bedeutender Persönlichkeiten anfertigt, wie zum Beispiel das von Rosa mit ihrem Bauch, in dem damals schon Du warst, meine Tochter, oder das von Elisenda Vilabrú oder von Targa. Eines Tages werde ich Dir von einer Frau

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