Die Stimmen des Flusses
die Tränen, die Leutnant Marcó in den Bart rannen. Keiner von beiden hatte denTorreta de l’Orri aus den Augen gelassen, falls das Blinkzeichen früher kommen sollte, und ihre Augen brannten. Die Stimme des Leutnants klang noch dunkler.
»Er hat mich gefragt: ›Vater, wie alt bin ich, wenn ich groß bin?‹« Er wischte sich energisch mit dem Ärmel übers Gesicht. »Das hat er mich gefragt, der Ventureta.«
Es war genau elf. Mit einer kalten Pünktlichkeit, die ihn stets schaudern ließ, setzten die Blinkzeichen ein. Zwei Lichtblitze durchzuckten die Nacht. Zwei. Schwärze, Stille, Kälte. Zwei Blinkzeichen. Tiefere Schwärze. Es gab keinen Zweifel. So lange warten für eine einzige Sekunde Meldung. Das Schauspiel war vorüber, sie konnten zu Bett gehen.
»Zwei«, sagte Leutnant Marcó und nahm sich die letzten Haselnüsse. »Wir gehen rauf.«
»Zwei Blinkzeichen«, stellte Korporal Faustino Pacón auf dem Weg von Pujalt nach Sort fest. »Was zum Teufel hat das zu bedeuten?«
»Gehen wir runter oder nicht, Korporal?« Der Gefreite zitterte vor Kälte; außerdem hatte er die Zigaretten in der Kaserne vergessen.
»Natürlich kommt das in den Bericht«, beschloß der Korporal.
»Du kommst nie zur Ruhe,Ventura.«
»Wenn der Krieg aus ist.«
»Hör mal …«
Ventura sah zu dem Schatten hinüber, der Oriol war.
»Was ist?« fragte er.
»Hattest du was mit dem Mord an Vater und Sohn Vilabrú zu tun?«
Ventura schlüpfte in den dunklen Mantel, in dem er mit der Kälte verschmelzen würde, sobald er den Platz überquert hatte. Wie eine Eidechse würde er an der Wand entlanghuschen bis zur Schule, wo dreizehn bis an die Zähne bewaffnete Soldaten auf seine Befehle warteten, um die Vorschläge des britischen Geheimdienstes zur Großen Operation in die Berge zu bringen, eine Mappe voller Erwägungen,Besorgnisse, Karten, Doktrin, Mißtrauen und aberwitziger Hoffnung.
»Warum willst du das wissen?«
»Ich will wissen, woran ich bin.«
»Der Lehrer will wissen, woran er ist!«
»Ja. Warum haßt Targa dich so sehr?«
»Frag ihn doch.«
»Er sagt, du wärst derjenige gewesen, der den Bruder von … von Senyora Elisenda mit Benzin übergossen hat.«
»Hüte dich vor dieser Frau. Es heißt, ihr wärt eng befreundet.«
»Wer sagt das?«
Joan Esplandiu von den Venturas öffnete lautlos die Tür und verschwand in Richtung Schule, ohne die Frage zu beantworten. Oriol folgte ihm leise.
32
Er konnte nicht frohen Herzen sein: wegen der Falangeuniform, wegen Rosa, weil er seine eigene Tochter nicht kannte, wegen Elisenda, weil sein Leben am seidenen Faden hing, wegen Ventureta, weil die Frauen der Venturas mich hassen, wegen der schneidenden Blicke, die mir mehr als eine Frau zuwirft, deren Mann vielleicht in einem Massengrab am Ebro verscharrt liegt oder – noch schlimmer – ganz in der Nähe, an der Landstraße bei Rialb oder Escaló. Es gab viele Gründe. Darum ist mein einziger Trost, Dir zu schreiben, meine Tochter, und Dir alles zu erklären. Wahrscheinlich wirst Du diese Zeilen nie lesen. Aber ich werde sie geschrieben haben. Und vielleicht werden diese Hefte und meine Zeichnungen eines Tages ja doch gefunden, nicht nur von den Mäusen, die nachts durch die Schule huschen. Möglich ist’s. Sollte das passieren, flehe ich den Finder von ganzem Herzen an, die Hefte meiner Tochter zukommen zu lassen.
Das war an sie gerichtet. Oriol Fontelles wandte sich direkt an Tina Bros, er flehte sie von ganzem Herzen an, diese Hefte seiner Tochter zukommen zu lassen.Wieso bittet mich Oriol Fontelles, die Hefte seiner Tochter zu überbringen, wenn er laut Senyora Vilabrús Aussage gar keine Tochter hatte?
Nein, es gab viele Gründe, weshalb er nicht frohen Herzens sein konnte. Obendrein stand sie auf dem Balkon und sah ihn an; er war sich sicher, daß sie ihn keine Sekunde aus den Augen ließ, sein Nacken brannte unter ihren Blicken. Mein Gott. Dennoch lächelte Oriol Fontelles Senyor Valentí Targa leutselig zu, nachdem er sich den Schweiß von der Stirn gewischt hatte, weil ihm die Sonne, wenn sie zwischen den schweren Wolken hervorbrach, direkt ins Gesicht schien. Soeben hatte der Bürgermeister von Torena mit elf anderenWürdenträgern das Podest auf dem Dorfplatz von Sort erklommen, der jetzt Plaza Mayor hieß. Sie drängten sich auf der Bühne, auf der einige Jahre zuvor, als es noch Musik gab, das Orchester oder die Sardanakapelle nachmittags zum Tanz aufgespielt hatte. Man hätte sie in ihren Sommeruniformen
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