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Die Stimmen des Flusses

Die Stimmen des Flusses

Titel: Die Stimmen des Flusses Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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war Tina gegen Maite, sie wollte endlich verstehen, warum geschah, was niemals hätte geschehen können, wenn wir aufrichtig geblieben wären. Nach einigen Sekunden fragte Maite: »Wer tut dir was an?«
    »Ach komm schon. Noch dazu …«
    »Wovon redest du?«
    »Schon gut, ich habe nichts gesagt, entschuldige«, sagte sie so abweisend wie möglich.
    Sie ließ Maite stehen; sie hatte von allem die Nase voll. Am liebsten wäre sie in diesem Augenblick bei Doktor Schiwago gewesen.
    Statt dessen kehrte sie in die Aula zurück und betrachtetedie Ausstellungswand, an der einige ihrer Fotos mit all ihren Fehlern zu bewundern waren – wie das von der Schule von Torena am Tag vor dem Abriß –, und die große Karte, auf der die Schulen verzeichnet waren, aus denen die Ausstellungsobjekte stammten. Sie entsprach ziemlich genau dem bevorzugten Aktionsradius des Trupps von Leutnant Marcó. Fast alle seiner Männer waren in den Pyrenäen geboren, alle kamen aus den Bergen, und soweit sie das aus ihrer letzten Lektüre entnehmen konnte, hatten sie häufig die offiziellen Anweisungen aus Toulouse mißachtet.
    Obwohl sie keinen Hunger hatte, nahm sie eine Olive, um etwas zum Knabbern zu haben. Sie sah sich um. Ein Lehrer berichtete dem unterdrückt gähnenden Bürgermeister von den Mühen, die sie auf sich genommen hatten, um irgendwelches Material aufzutreiben. Joana trat auf sie zu; sie hatte ein Bündel zusammengefalteter Blätter bei sich.
    »Das interessiert dich doch, oder?«
    Tina warf einen Blick auf die Papiere. Es waren Zeitungsausschnitte von damals.
    »Wo hast du die denn her?«
    »Aus der alten Schule von Sort. Anscheinend hat ein Lehrer das wenige gesammelt, was über den Maquis geschrieben wurde.«
    »Weißt du, wer es war?« Begierig blätterte sie die Artikel durch.
    »Nein.« Joana zögerte einen Moment, bevor sie fragte: »Warum interessierst du dich so sehr für den Krieg?«
    »Weil ein Lehrer, der ein Widerstandskämpfer des Maquis war, als angebliches Bollwerk des Faschismus in dieser Region in die Geschichte eingegangen ist. Ich möchte die Wahrheit ans Licht bringen.«
    »Und wozu soll das gut sein?«
    »Für das Gedenken.« Sie senkte den Blick, weil ihre Worte ihr zu pathetisch erschienen: »Für seine Familie. Seine Tochter. Mich.«
    »Kennst du seine Tochter denn?«
    »Nein. Ich weiß nicht einmal, ob sie lebt.«
    »Das ist ja auch lange her.«
    Wie sollte sie ihr erklären, daß sie der Gedanke erschreckte, die Menschen könnten nicht sein, was sie waren, wie Oriol Fontelles, wie Jordi. Daß es ihr leichter fiel, sich mit Fontelles auseinanderzusetzen als mit Jordi. Sie beschäftigte sich mit Oriol, weil sie feige war. Mein Gott, so viele Feiglinge auf einem Haufen. Soll ich Joana etwas erzählen? Soll ich ihr von Jordi erzählen? Vom Arzt? Von Arnau?
    »Im Grunde genommen tue ich es wahrscheinlich für mich«, schloß sie. Joana sah sie an.Tina spürte, daß ihre Hände zitterten, und ließ die Zeitungsausschnitte sinken, damit Joana es nicht bemerkte.
    »Gibt’s was Neues von Arnau?«
    »Nichts. Er sagt, er sei sehr glücklich.«
    »Habt ihr ihn noch nicht besucht?«
    »Sie lassen uns nicht. Es ist noch zu früh. Aber ich glaube, ich fahre demnächst einfach mal hin.«
    Beide schwiegen ein wenig unbehaglich. Dann drückte Joana ihr zum Abschied den Arm, und Tina blieb allein zurück mit ihrer Enttäuschung über Arnau, meinen Sohn, der aus freien Stücken einen Weg gewählt hat, nachdem ich dafür gekämpft habe, daß er nie gezwungen würde, diesen Weg einzuschlagen. Mein Sohn lebt ein anderes Leben. Wie die Tochter von Oriol Fontelles, die in der Überzeugung lebt, ihr Vater sei ein Faschist gewesen, was doch nicht wahr ist.
    Sie sah sich die Zeitungsausschnitte an, überflog zwei oder drei. Eine Reihe von drei sehr guten, wenn auch ein wenig vergilbten Fotos, auf denen die Plaça de Sant Eloi zu sehen war, vielleicht auch die Plaça Major, mit einem Mahnmal, dessen Inschrift kaum zu entziffern war.Tina ging zum Licht, um die Einzelheiten besser zu erkennen. Unter dem ersten Foto stand, daß es sich um ein schlichtes, aber kraftvolles Mahnmal für die Gefallenen handele, eingeweiht 1944 und gleich darauf bei einem Anschlag zerstört. Hinter dem Mahnmal gingen ein Arbeiter und ein Junge davon, derverärgert auf den Stein sah. Es regnete. Im Hintergrund stand eng umschlungen ein junges Paar, vielleicht küßten sie sich. Eine Gruppe von Männern in weißen Jacketts, die sie an die Musiker des

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