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Die Stimmen des Flusses

Die Stimmen des Flusses

Titel: Die Stimmen des Flusses Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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Gequatsche …
    »… und nicht zuletzt möchte ich sie als Hommage an unsere Kollegen und Kolleginnen aus früheren, weniger glücklichen Zeiten verstanden wissen … Wir alle sind Teil des gleichen gesellschaftlichen Motors, des Unterrichtswesens.«
    Hat es andere, weniger glückliche Zeiten gegeben? Habe ich jemals soviel Kummer im Herzen getragen? Ich bringe es nicht über mich, aus der Runde herauszutreten, mich vor ihn hinzustellen und ihm zu sagen, Jordi, hör auf, Reden zu schwingen, und denk ein bißchen nach: Es gab glücklichere Zeiten, erinnerst du dich? Damals dachten wir noch, wir wären anständig, vor allem aber dachten wir, wir würden für alle Zeiten anständig bleiben, ja oder nein, sag schon, ja oder nein?
    Der höfliche Applaus der Eröffnungsgäste der Ausstellung Ein halbes Jahrhundert schulischen Lebens (1940-2002) riß sie aus ihren Gedanken. Die Ausstellung würde für einen Monat in der Aula gezeigt werden, bis Karneval, und es würden Lehrer aus anderen Schulen der Region kommen, die ebenfallsdaran mitgearbeitet hatten. Der Bürgermeister erklärte die Ausstellung für eröffnet, und alle machten sich über die gefüllten Oliven und die Kartoffelchips her und begossen sie mit einem Schluck Limonade. Joana nutzte das Gewirr, behende wie immer, um die letzten Schildchen anzubringen, und Jordi trat, begleitet von Maite, lächelnd auf sie zu. Tina wollte Jordi nicht kontrollieren, folgte ihnen dann aber doch aus einigen Metern Entfernung und tat so, als holte sie sich etwas zu trinken. Als ein Kollege ihr Kartoffelchips anbot, winkte sie dankend ab, wie um zu sagen, vor ein paar Tagen habe ich herausgefunden, daß mein Mann mich betrügt, und mir ist nicht nach Kartoffelchips zumute, weil ich vor Kummer sowieso nichts herunterbekomme. Und ich erzähle dir lieber nichts weiter, weil das Ganze zu traurig ist. Jordi stand noch immer vor der Sekretärin, eine Olive in der Hand: »Herzlichen Glückwunsch. Die Ausstellung ist großartig geworden.«
    »Mir wäre lieber gewesen«, erwiderte Joana schroff, »die Leute hätten in den letzten Tagen mit angepackt, anstatt mich jetzt zu beglückwünschen.« Sie wandte sich an Maite: »Der Katalog ist noch nicht fertig.«
    »Aber die Eröffnung haben wir fristgerecht geschafft.«
    Tina sah, wie Joana, offensichtlich verärgert, das Erläuterungsschild zur Herkunft von fünf erstaunlich gut erhaltenen Stücken Tafelkreide anbrachte, die sie in einer Schule im Vall de Ferrara gefunden hatten, und dann im Sekretariat verschwand, wo sie immer irgend etwas zu tun hatte. Jordi und Maite blieben ein wenig ratlos zurück, auch wenn sie sich das nicht anmerken lassen wollten.Tina beobachtete die beiden und versuchte, sie sich um Mitternacht im Anorak vor der Pension von Ainet vorzustellen. Konnte es Maite sein, die Schlampe? Sie war sich nicht sicher, aber möglich war es. Als Schulleiterin hatte sie viel Bewegungsfreiheit.
    Fast hätte sie sich verschluckt, als das ehebrecherische Paar auf sie zukam; wieder mußte sie den Kollegen abwimmeln, der es offensichtlich darauf anlegte, sie zu mästen, und nichtzu merken schien, daß sie nicht nur Kummer, sondern auch ein paar Kilo zuviel auf den Rippen hatte. Maite, die Verräterin, fragte sie besorgt: »Weißt du, was mit Joana los ist?«
    Sie hatte Lust zu sagen, fragt euch lieber, was mit mir los ist, ihr beide macht mich fertig, und ich habe niemanden, mit dem ich darüber reden kann. Falls du es überhaupt bist, Maite. Aber sie erwiderte bloß: »Keine Ahnung, vielleicht ist sie nervös. Immerhin hat sie sich ganz schön ins Zeug gelegt.«
    »Jeder hat getan, was er tun mußte«, verteidigte sich Maite.
    Tina hörte ihr nicht zu; sie sah, wie Jordi sich entschuldigte und mit strahlender Miene davonging. Also war es doch nicht Maite. Sie wandte sich um, um Jordis Begegnung mit seiner wahren Geliebten zu erleben, sah aber nur, wie er Miguel Darder auf die Schulter klopfte. Maite, du bist es doch. Maite und sie lächelten Darder an. Genaugenommen waren es sechs Kilo zuviel, auch wenn sie sich das nur ungern eingestand. Einen Moment lang war Tina versucht zu fragen, warum tut ihr mir das an, Maite?, aber sie hielt sich noch rechtzeitig zurück. Sie sah zu Darder hinüber, winkte ihm von weitem zu, Darder winkte zurück, und sie hörte, wie es aus ihr herausbrach: »Warum tut ihr mir das an, Maite?«
    Maite, die gerade weggehen wollte, blieb stehen und öffnete den Mund; der Gesprächslärm um sie herum war verstummt. Es

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