Die Stimmen des Flusses
sein.
Achtundzwanzig Jahre später erinnerte an der Klamm von Forcallets nichts mehr an die Männer, die durch den taktisch klug erdachten Hinterhalt des Lehrers von Torena hinabgestürzt waren. Der Sohn von Pere Serrallac bezog seinen Marmor von einem Großhändler in La Seu, der ihn überall zusammenkaufte. Viel Schnee war seither gefallen. Marcel bremste die Skier mit einem perfekten Schwung ab, genau an der Stelle, an der sein Vater den Bergmann aus Asturien, der den Trupp befehligte, angewiesen hatte, das Maschinengewehr aufzustellen, mitten auf dem Weg, um Hauptmann und Leutnant den Weg zu versperren und unter der Herde der Besatzer Verwirrung und Schrecken zu säen.
»Hier. Genau hier«, sagte Marcel.
Ein Mädchen mit langen, dunklen Haaren unter einer gelben Mütze hielt exakt an der Stelle, die Marcel ihm gezeigt hatte.
»Perfekt. Ich glaube, ich kann dich schon alleine fahren lassen.«
»Aber wir sind auf keiner Piste, oder?«
»Keine Angst, ich kenne das hier wie …«
Wie das Loch der kleinen Schäferin, hätte er beinahe gesagt, aber er hielt sich zurück.Wie sehr vermißte er Quique! Mit ihm war er neue Strecken gefahren, hatte Langlaufrouten abgesteckt, hatte über das Potential von Skiliften gefachsimpelt und über die Beine der Mädchen, und das Leben war jung gewesen. Aber eines schönen Tages, nach der Geschichte unter der Dusche, war Quique verschwunden, ohne ein Wort zu sagen. Mamà hatte beiläufig erwähnt, er habe Arbeit in Sankt Moritz gefunden, und wenn das stimmte, hatte er gut daran getan, zu gehen, aber der Mistkerl hätte doch was sagen können. Irgend etwas, denn so sehr er ihn haßte, beneidete, verachtete und liebte, Quique würde immer Quique bleiben, der Mann, der ihn in die Kunst der Liebe eingeführthatte, in den Sex als Kunst, unter der Dusche von Tuca und später im Casita Blanca und im Nidito, wo er ihn mit Frauen zusammenbrachte, die aus Fleisch und Blut waren, nicht wie die Mädchen in den heimlich gelesenen Playboyheften. Und jetzt war er spurlos verschwunden, der Idiot.
»Fahren wir runter?«
»Warte. Findest du das hier nicht schön?«
Sie nickte. Marcel Vilabrú ließ seinen Blick begehrlich über die Landschaft schweifen, die er so sehr liebte. Oberhalb des Solanet ließ sich ein Stück der Wand des Obi Blau erahnen, aber er konnte nicht die Schritte seines Vaters Oriol Fontelles sehen, der diesen Weg wohl an die fünfzig Male zurückgelegt hatte, immer zu Fuß und immer nachts, beladen mit leichtem und schwererem Material, die Angst im Nacken, das Gewicht der Munitionskisten verfluchend, das eiserne Schweigen der anderen Guerrilleros bewundernd, die alle ihren eigenen Schmerz, ihr eigenes Vergessen oder ihre eigene Sehnsucht im Kopf hatten, sie aber für sich behielten, aus Angst, mit Tränen in den Augen schlechter zielen zu können.
»Ja, sehr hübsch. Fahren wir?«
Er küßte sie hart auf den Mund, von der Seite wegen der Skier. Als er fühlte, daß sie seinen Kuß erwiderte, dachte er, daß er das erste Mal seit seiner Heirat mit Mertxe eine Frau küßte – Nutten und Norwegerinnen einmal ausgenommen –, deren Namen er kannte und in die er sich hätte verlieben können. Ein gutes Jahr hatte er in ewiger Treue Enthaltsamkeit geübt. Nun gut, ausgenommen vielleicht die Bascompte und die wie hieß sie noch, ach ja, Nina. Und noch die eine oder andere, zugegeben.
»Laß den Blödsinn«, sagte sie, schob ihn weg und rückte die Skier gerade. Marcel dachte, laß den Blödsinn, aber gefallen hat’s dir doch, Süße.Während der Abfahrt zur Skistation sprachen sie kein Wort, nicht, als sie den Hügel hinunterglitten, wo der Kopf des Hauptmanns in Stücke geschossen worden war, und auch nicht, als sie die große Tanneumfuhren, unter der Oriol Fontelles eines Nachts geweint hatte, als er sich sogar von seiner eigenen Kraft verlassen fühlte, weil er seit sechs Tagen nicht mehr als drei Stunden pro Nacht geschlafen hatte. Unten erwartete sie Mertxe, ein wenig beleidigt, ein wenig schwanger, ein wenig nervös, weil es halb drei ist und ich einen Bärenhunger habe.Vielleicht lag es an dem heimlichen Kuß, jedenfalls protestierte Marcel nicht, er wolle noch weiterfahren, sondern verabschiedete sich höflich von dem Mädchen mit dem schwarzen Haar und dem heimlichen Kuß sowie von ein paar Kunden und ging brav zum Wagen, gefolgt von Mertxe.
Der Zwölf-Uhr-Messe in der Kirche Sant Pere von Torena wohnten die Honoratioren des Ortes bei, soll heißen, Senyora
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