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Die Stimmen des Flusses

Die Stimmen des Flusses

Titel: Die Stimmen des Flusses Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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anbringen.
    »Siehst du, diesen Namen hätte ich nun nicht geändert, denn bald wird er ja seliggesprochen, und dann müssen wir die Straße schon wieder umbenennen.«
    »Woher wollen Sie wissen, ob er seliggesprochen wird? Immerhin war er ein …«
    »Ihr jungen Leute geht ja nicht zur Messe …« Cecilia Báscones sah ihren Gesprächspartner mitleidig an. »Wundersame Heilungen«, fügte sie geheimnisvoll hinzu.
    »Das glaubt Ihnen nicht mal Gott.«
    Als alles vorüber war, zerstreuten sich die Menschen, als wären sie hungrig. Die beiden in den leuchtenden Regenmänteln liefen noch immer herum, und Jaume Serrallac leerte seinen Korb mit den Trümmern der Geschichte in den Müllbehälter der Calle Fontelles. In diesem Augenblick sah Elisenda zwei Flecken am oberen Ende der Straße. Ihre Augen waren zu schwach, um Genaueres zu erkennen, als daß es zwei Frauen waren, die Arm in Arm gingen. Bestimmt die Venturas. Die beiden Flecken gingen die Straße hinunter, schweigend, sahen sich nach allen Seiten um, als müßten sie erst den Weg ertasten. Als sie an der Mülltonne angelangt waren, beugte sich eine von ihnen darüber, um sich zu vergewissern. Dann gingen sie die Calle Fontelles hinunter. Carrer del Mig hinunter.

57
    Er war am 2. Mai 1919 in Huesca im Schoße einer einfachen Familie geboren. Sein Vater hatte ein Lebensmittelgeschäft, das die Seinen ernährte: seine Frau, Großtante Soledad, Jacinto und Nieves. Lange Zeit träumte der kleine Jacinto davon, mit der goldglänzenden Blechschaufel Makkaroni aus dem Schubfach zu holen und sie in eine Papiertüte zu füllen, und das gleiche mit Reis und Zucker zu tun – und wenn er dann noch einen Viertelliter Öl aus der gut gefetteten Pumpe abfüllen dürfte, dann wäre er dem Glück sehr nah. Deshalb blieb ihm der 14. April 1931 unauslöschlich im Gedächtnis, nicht etwa, weil an diesem Tag in Barcelona und Madrid die Zweite Republik ausgerufen wurde, sondern weil Don Rosendo am Tag zuvor beschlossen hatte, daß Jacinto lange genug die Schulbank gedrückt hatte und er ihm vom nächsten Tag an im Laden aushelfen solle, der in der Calle Desengaño, Ecke Caballeros lag. Unermüdlich schleppte er Kisten mit Siphons und füllte Flaschen mit Wein vom Faß. Aber er durfte auch andere, ehrenvolle Dinge tun: Reis, Makkaroni, Fadennudeln, kleine Fadennudeln (die eine andere Schaufeltechnik erforderten), Linsen, Kichererbsen, Bohnen und Öl. Ja, Jacinto durfte Öl ausschenken, und er war dem Glück sehr nahe, als er sich die Hände an dem schmuddeligen Tuch abwischte, nachdem er Pilar von der Reinigung San Vicente den ersten Liter Öl seines Lebens abgefüllt hatte. Mit zwölf Jahren war er ein glücklicher Junge. Später, während der Republik, wurden die Dinge allmählich komplizierter, und noch schlimmer wurde es mit dem Krieg, denn nun war es eine Qual, eine Papiertüte nach der anderen mit Makkaroni und Reis zu füllen und sich die Hände mit diesem verfluchten Öl schmutzig zu machen, vor allem, wenn eine hübsche Kundinden Laden betrat und man geradezu widerlich ölig war. Er hatte das alles so satt, daß er sich zur Armee meldete, sobald er konnte, um aus diesem verdammten Lebensmittelgeschäft in der verdammten Calle Desengaño, Ecke Caballeros herauszukommen, um etwas von der Welt zu sehen und das Glück zu suchen. Er rückte mit den republikanischen Truppen vor, mitten in einen Kampf, der sich zur Ebroschlacht ausweitete. Bei Vinebre überquerte er den Fluß; er war glücklich, weil er ein wunderbares Mädchen kennengelernt hatte, das ihm eine fleischfarbene Rose schenkte, aber keine Zeit hatte, ihm seinen Namen zu verraten, weil seine Kompanie schon auf dem Weg zum Fluß war. Er verlor die Rose, kaum, daß er den Fluß überquert hatte, aber er erreichte lebend die Berge von La Fatarella. Er schoß wahllos um sich, machte sich in die Hosen, weil sie in dem Maschinengewehrnest festsaßen, von dem aus sie ein abgeerntetes Feld kontrollierten, von dem ihnen gesagt wurde, es sei sehr wichtig, er wurde in einen schrecklichen Nahkampf verwickelt, und ein faschistisches Bajonett grub ihm ein düsteres Lächeln in die rechte Wange. Zum Glück infizierte sich die Wunde nicht. Nachdem er achtzig Tage überlebt hatte, umgeben von toten Kameraden, trat er über Vinebre den Rückzug an, aber so sehr er sich auch umsah, er fand das Mädchen nicht wieder, dessen Namen er nicht kannte und das den Todgeweihten eine fleischfarbene Rose geschenkt hatte. Er kehrte nach Huesca

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