Die Stimmen des Flusses
den Mund. Sie haben immer noch Angst.«
»Ich weiß, wer meinen Vater umgebracht hat«, sagte Bringué.
»Targa. Aber der ist schon tot.«
»Aber ich kenne auch die, die applaudiert haben, als mein Vater erschossen wurde.« Die Wendung des Gesprächs drohte, den Genuß der Paella zu gefährden, und so sagte Bringué, um das Thema abzuschließen: »Das Leben im Dorf ist sehr grausam.«
»Wenn man keine Weiden hat, aus denen man schwarze Pisten machen kann.«
»Nun gut. Schließlich sind wir deswegen hier und nicht, um von diesen traurigen Geschichten zu sprechen. Ich bin offen für eure Vorschläge, aber ich warne dich: Es muß schon etwas für mich dabei herausspringen. Wozu bin ich sonst Bürgermeister?«
»Das Landleben ist einfach ursprünglicher.«
»Ich glaube, ich habe das Stadtleben satt. Ich will keine anonyme Nummer mehr sein …«
»Warum versuchen wir es nicht einfach?« hatten sie sich vier Monate zuvor gesagt.
Und sie hatten es versucht. Beide bewarben sich bei der Schule von Sort, und um etwas über den Ort zu erfahren, schlugen sie in der Enzyklopädie nach.
»Sieh mal: Gemeinde im Pallars Sobirà, im Tal der Noguera Pallaresa. Auf den Trockenfeldern gedeihen Weizen und andere Getreidesorten; die bewässerten Flächen dienen alskünstliche Weiden, Gemüsegärten und Kartoffelfelder. Es gibt neunhundertsiebzehn Hektar Weideland. Viehzucht ist ein bedeutender Wirtschaftsfaktor.«
»Kühe, wie schön.«
»Ja. Milch- und Käseherstellung. Die Ortschaft Sort, das Zentrum des Pallars Sobirà, erstreckt sich im Talgrund am rechten Ufer der Noguera Pallaresa. Die Ortschaft wird bereits im Jahr tausendneunundsechzig erwähnt.«
»Mann! Kannst du dir das vorstellen? Tausendneunundsechzig!«
»Ja, als Besitz der Kirche von Urgell.«
»Wenn wir die Stelle in der Schule bekommen, können wir nach Sort ziehen.«
»Die Altstadt besteht aus engen Straßen und alten Häusern, die sich rund um den Felsvorsprung gruppieren, auf dem die Überreste der Burg von Sort thronen, die einst Sitz der Grafen von Pallars war: die großen Rundtürme, die gotische Fassade (14. Jahrhundert) und die (1842 zu einer Friedhofsmauer umfunktionierten) Wände. Unterhalb der Burg zieht sich der Ort am Flußuferweg entlang bis zum Carrer Major und der Vorstadt, und am Knotenpunkt von Vorstadt und Altstadt liegt die Plaça Major, beherrscht von der Pfarrkirche Sant Feliu.«
»Ein friedliches Fleckchen Erde«, faßte Jordi zusammen und klappte das Lexikon zu.
»Ich glaube nicht, daß da viele Leute hinwollen. Und wenn wir versuchen, ein altes Haus zu finden?«
»Ja. Und wenn nicht, nehmen wir eine normale Wohnung.«
»Ob’s das dort gibt?«
»Wir können ja am Wochenende mal hinfahren, nur so zum Spaß.«
Und jetzt feierten sie es. Es war kein altes Haus geworden, sondern eine halbwegs neue Mietwohnung, die in Ordnung war, weil sie so nahe am Fluß lag, daß man ihn rauschen hörte, wenn man das Fenster öffnete. Und mansah ein Stück der wirklich eindrucksvollen Landschaft. Die Wohnung war nicht sehr groß, aber für sie beide reichte sie allemal, und die Preise waren mit denen in Barcelona nicht im entferntesten vergleichbar. »Das ist eine andere Welt hier, die Leute leben eher … ich weiß auch nicht … sie nehmen das Leben einfach anders, spielen noch Karten in den Cafés, weißt du?«
»Wie schön.«
»Und wenn wir Kinder haben, werden sie Pallaresos sein.«
»Wir müssen mal fragen, was man hier so ißt.«
»Was meinst du, wie angenehm das wird, wenn wir nur fünf Minuten Fußweg bis zur Schule haben.«
»Das Leben auf dem Land ist ein echter Luxus. Und mit dem Geld kommt man auch besser hin.«
»Wenn das Schuljahr anfängt, höre ich auf zu rauchen.«
»Wir könnten Vegetarier werden.«
»Ich liebe dich,Tina.«
»Ich dich auch.«
Die Paella von Rendé übertraf ihre Erwartungen. Und Gott, der sich – entgegen seinem Ruf – gerne einen Scherz erlaubt, hatte zwei Tische neben Tina und Jordi den ersten demokratisch gewählten, frischgebackenen Bürgermeister von Torena gesetzt, Feliu Bringué (Sohn des früh verstorbenen Joan Bringué von den Feliços, Parteimitglied der Esquerra Republicana, Bürgermeister und Märtyrer für die einen und Mörder für die anderen), der mit einem Landaufkäufer im Dienste eines Wintersportunternehmens verhandelte. Und noch ein wenig weiter saßen an einem Ecktisch Rechtsanwalt Gasull und der junge Marcel Vilabrú von Vilabrú Sports, Eigentümer oder Miteigentümer oder
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