Die Stimmen des Flusses
meine Tochter, daß es mir schwergefallen ist, sehr schwer, zu akzeptieren, daß man für die Freiheit kämpfen muß. Aber eines Tages hat die Marionette beschlossen, sich aufzulehnen. Es war keine wohldurchdachte Entscheidung. Ich habe mich einfach zu sehr vor mir selbst geekelt.Trotzdem haben mich die Umstände dazu getrieben, sie haben mich zum Handeln gezwungen.Vorher war ich ein noch größerer Feigling. Aber nun, da ich ständig in Gefahr bin, schätze ich das höher, wofür ich jede Nacht mein Leben aufs Spiel setze, indem ich Flüchtlinge beherberge, Nachrichten übermittle oder selbst den Boten mache, den Hang von Tuca Negra hinauflaufe, einen Berg, den ich bei Nacht besser kenne als am Tag und der so weit von der Grenze entfernt ist, daß die Armee, die ganz woandershin schaut, ihn gar nicht beachtet.Weißt du, daß ich seit zwei Monaten nur zwei oder drei Stunden pro Nacht schlafe? Und noch dazu darf niemand es merken. Es ist so schwer, sich zu verstellen … Ich wünsche Dir, daß Du Dich nie verstellen mußt, daß Du immer Du selbst sein kannst.
Der Faschismus und der Nationalsozialismus in Europa werden besiegt, wenn auch auf Kosten zahlreicher Menschenleben. Dann wird nur noch das Francoregime bleiben. Wir hoffen, daß wir es mit unseren bescheidenen Mitteln zu Fall bringen können. Und wenn uns das nicht gelingt, so hoffen wir, daß Europa uns dabei helfen wird.
Ich weiß schon, daß ich als Vater nichts tauge und Dir Dinge sage, die Dir jetzt vielleicht nichts bedeuten. Aber ich wollte Dir nicht eine Welt ausmalen, die es nicht gibt; das könnte ich gar nicht. Du wirst noch ein paar Jahre warten müssen; wenn Du ein junges Mädchen bist, wirst Du es verstehen. Wie gerne würde ich Dich mit fünfzehn Jahren sehen, vielleicht mit Zöpfen, wenn Du irgendwo eine Straße entlanggehst, heimlich den Jungen nachsiehst, verlegen lachst und mit deiner Freundin tuschelst. Wie gerne würde ich«
Hier war ein Fleck, so daß man nicht erkennen konnte, was Oriol Fontelles sich gewünscht hatte. Weiter unten, zum Ende der Seite hin, hieß es: »und glaub nicht, daß Dein Vater so eine scheußliche Handschrift hatte: Es ist furchtbar kalt, und meine Finger sind steif. Ende September sind die Nächte in Torena eisig, selbst wenn man den Ofen anmacht. In einer Stunde muß ich raus zur Tuca Negra und dort auf eine Gruppe warten, die in der Schule schlafen wird. Schlafen.
Du, meine Tochter, solltest jetzt spielen, ordentlich essen, auf Deine Mutter hören und schön groß werden. Wenn Du groß bist, wünsche ich mir, daß Du Dich an Deinen Vater erinnerst, der ängstlich war und ein wenig rebellisch und der für unsere Freiheit getan hat, was er konnte, wenn auch zu spät für Deine Mutter. Und ich will Dir noch ein paar Dinge sagen, die Eltern so zu sagen pflegen: Wenn Du groß bist, meine Tochter, meide die Heuchelei; verurteile die anderen nicht, schade ihnen nicht, strebe nicht nach Ehre, sieh zu, wo Deine Hilfe am nötigsten gebraucht wird, nicht, wo sie am meisten ins Auge fällt. Und trachte danach, daß es zwischen Dir und den Menschen, die Du liebst, nicht allzu viele Geheimnisse gibt. Zwischen Deiner Mutter und mir gibt es ein Geheimnis, das uns das Herz gebrochen hat. Ein Geheimnis? Eher Unstimmigkeiten. Und ich habe sie nicht genug geliebt. Auf jeden Fall hat es uns das Herz gebrochen, und ich möchte nicht, daß Dir jemals etwas Ähnliches widerfährt. Ich weiß nicht, was ich Dir zum Abschied sagen soll: Jetzt habe ich eine ganze Weile nach den richtigen Abschiedsworten für meine Tochter gesucht und habe sie nicht gefunden. Ich muß gehen. Wenn ich ein Bonbon hätte, würde ich es Dir neben die Hefte legen. Adieu, meine Tochter. Bemüh Dich nach Kräften, Dein Leben lang die Ideen in Ehren zu halten, für die ich mein Leben gebe. Dein Dich liebender Vater.« Darunter stand »Oriol«, und die Tinte war verschmiert, als hätte Oriol Fontelles geweint, kaum daß er den Brief an seine Tochter beendet hatte, die es nicht gab.
»Verstehst du, warum ich es als persönliche Angelegenheit betrachte? Verstehst du das?«
»Ich glaube, ja.«
»Ich will nicht, daß das Licht dieses erloschenen Sterns sein wahres Ziel nie erreicht.«
»Genau. Das ist es,Tina.«
Er dachte eine Weile nach, dann zeigte er auf die Papiere: »Senyor Oriol ist wie die Steinmetze der Kathedralen.«
»Wie meinst du das?«
»Nun ja. Sie wissen, daß sie für niemanden arbeiten. Sie erschaffen Skulpturen, Wasserspeier, Geländer,
Weitere Kostenlose Bücher