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Die Stimmen des Flusses

Die Stimmen des Flusses

Titel: Die Stimmen des Flusses Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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einem dieser undefinierbaren Modelle. Einen Augenblick lang hatte sie sich darauf verlassen, daß Joana nach Hause gegangen war, um vor Wut zu weinen, aber nein: Joana war da, wartete, bis sie herauskäme, bis sie verschwände und endlich den Weg und das Leben freigab.
    Tina startete den Wagen. Der 2CV sprang sofort an, als hätte er es eilig, von dieser widerlichen Pension wegzukommen, die zu Jordis zweitem Zuhause geworden war.
    Um die Zeit bis elf Uhr totzuschlagen, war sie zu Serrallac gefahren; sie wollte sehen, ob er Oriols Papiere gelesen hatte und ob er um diese Zeit noch Kaffee trank. Sie fand ihn in seinem kleinen, sauberen, aufgeräumten Büro inmitten der staubigen Werkstatt. Die Arbeiter waren im Aufbruch, und er diskutierte über irgend etwas mit seiner Tochter, stellte sie ihr aber nicht vor. Als die Tochter das Büro verlassen hatte, winkte Serrallac sie herein. Ja, auch um diese Zeit trank er Kaffee. Er bot ihr einen Platz an, öffnete die untere Schublade und holte die Mappe mit Oriols Papieren heraus.
    »Ist das alles?« Er zeigte auf die Papiere.
    »Nein, nur ein Teil.«
    »Ich möchte gerne alles lesen.«
    »Glaubst du es nun?«
    »Ich weiß es nicht. Vielleicht ja. Es geht aber gar nicht darum, ob man es glaubt oder nicht, sondern darum, ob es die Wahrheit ist oder nicht.«
    Sie schwiegen. Nach einer Weile sagte er, in Gedanken noch bei den Heften: »Du sagst also, diese ›Tochter, deren Namen ich nicht weiß‹, heißt Joan.«
    »Naja, der Junge hieß Joan. Jetzt heißt er Marcel. Ich weiß jetzt, wer er ist.«
    Jaume Serrallac konnte kaum glauben, daß Marcel Vilabrú, den er hatte aufwachsen sehen und der so rätselhaft, unantastbar und abweisend geworden war wie seine Mutter, nicht der Sohn dieser Frau sein sollte, sondern der Sohn einer Mutter, die an Schwindsucht gestorben war und Rosa hieß wie meine Roseta, und eines Lehrers, der vielleicht ein Verräter gewesen war, vielleicht aber auch ein Held. Er hörte, wie Tina ihre Erklärung beendete: »Ich weiß nicht, warum, aber Senyora Elisenda hat ihn heimlich adoptiert.«
    »Kannst du das beweisen?«
    »Ich weiß nur, was ich dir gesagt habe. Weißt du, wo ich diesen Marcel finden kann?«
    »Er lebt in Barcelona. Ich habe dir ja schon …« Erschrocken unterbrach er sich: »Sag mal, hast du geweint?«
    Unversehens strich ihr Serrallac mit zwei rauhen Fingern über die Wange, beinahe ebenso zärtlich, wie er über die Steine zu streichen pflegte. Als ihm bewußt wurde, was er da tat, zog er rasch seine Hand zurück, wie eine Schnecke, die die Hörner einzieht: »Entschuldige, das geht mich nichts an.«
    Tina griff nach Oriols Papieren. Sie schlug sie auf, um nicht auf die Frage antworten zu müssen, und fand die Stelle, an der stand: »Liebe Tochter, heute nacht schreibe ich nur Dir.Andere Seiten, die ich Dir geschrieben habe, waren auch an Deine Mutter gerichtet. Aber wenn sie liest, was ich Dirjetzt schreibe, wird sie verstehen, daß das für Dich bestimmt ist. Heute nacht bin ich traurig. Gefällt Dir mein Hund? Man hat mir gesagt, es sei ein Springer Spaniel, ein treuer, kluger Hund. Er ist von weit her gekommen, und ich vermute, wenn er sich kräftiger fühlt, wird er von hier verschwinden, weil er denkt, er hätte in einem zerschlagenen Europa noch Hoffnung.
    Ich weiß, daß meine Zeit abläuft. Diese rastlosen Monate münden in eine Aktion, bei der höchstwahrscheinlich, ganz gleich, ob sie gut oder schlecht endet, meine wahre Rolle aufgedeckt wird, so daß ich nach Frankreich werde fliehen müssen. Ich weiß, daß ich nicht einmal das werde tun können, wenn alles schiefgeht. Es ist also mehr als wahrscheinlich, daß wir uns nie kennenlernen werden, meine Tochter, deren Namen ich nicht weiß. Das heißt, wir kennen uns nicht, aber ich habe Dich einmal gesehen. Ich habe Deine kleine Hand gesehen. Seitdem denke ich jede Nacht, wenn ich für ein paar Stunden schlafen kann, an Deine kleine Hand und schlafe ein wenig glücklicher ein. Oder, genauer gesagt, weniger traurig.
    Ich vertraue darauf, daß Du diese Zeilen lesen wirst, daß Deine Mutter meine Sachen holen und in unserem Geheimversteck nachsehen wird, wenn sie erfährt, daß ich für den Maquis mein Leben gelassen habe. Ich vertraue darauf, denn nur so wirst Du jemals lesen können, was ich Dir schreibe. Wenn Du es liest, heißt das, daß ich nicht lange genug gelebt habe, um die Hefte zu zerreißen, bevor Du sie bekommst. Weißt Du was? Es gibt Sterne, die sind so weit von uns

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