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Die Stimmen des Flusses

Die Stimmen des Flusses

Titel: Die Stimmen des Flusses Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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in Barcelona. Ich werde drei Stunden brauchen.«
    »Dann sollten wir vielleicht besser morgen …«
    »Machen Sie sich um mich keine Sorgen, Doktor. In drei Stunden bin ich in der Klinik.«
    Sie hängte auf, verdarb Doktor Combalia ein Abendessen, befahl ihrem Chauffeur, über die Landstraße zu fliegen, und vergaß zum ersten Mal in ihrem Leben ihr Necessaire.
    Um halb neun abends saß sie im Krankenstuhl, und Doktor Combalia untersuchte ihr linkes Auge und diktierte Vanessa lieber nichts, weil er sonst die Patientin ebenso sehr erschreckt hätte, wie er selbst erschrak. Warum zum Teufel muß ich derjenige sein, der ausgerechnet Elisenda Vilabrú sagen muß, das es vorbei ist, daß sie ja schon vorgewarnt war, aber daß es jetzt soweit ist, in ein paar Wochen … einpaar Monaten … Er vergaß seine Kollegen, mit denen er zum Abendessen verabredet war (das fünfundzwanzigste Jubiläum der Promotion, und er hatte eigentlich wissen wollen, was aus Amouroux geworden war und aus Pujol), und als sie fragte, »Wie lange wird es dauern, bis alles um mich herum dunkel wird?«, räusperte er sich und sagte, »Nun ja, ein halbes Jahr bis ein Jahr«, und dann sagte er diesen Satz: »Senyora Vilabrú, hier kann die Wissenschaft nichts mehr ausrichten.«
    Hund oder Hausangestellte? Ein Blindenstock? Und die Buchhaltung? Und die Reisen? Und das Essen? Sehen die denn nicht, daß ich mich besudeln kann, ohne es zu merken?
    »Die Wissenschaft stößt hier wirklich an ihre Grenzen.«
    Sie verstand, daß sie sich damit würde abfinden müssen, daß der Chauffeur, der erst seit zehn oder zwölf Jahren in ihren Diensten war, zu ihren Augen auf der Landstraße würde; in gewisser Weise führte die Krankheit dazu, daß sie sich nach Jacinto zurücksehnte. Sie verstand, daß Ció trotz ihres Rheumas ihr im Haus als Stütze würde dienen müssen. Gasull würde zu ihrem Sekretär werden und Zugang zu ihren Konten erhalten, und er würde ihr sagen müssen, das Geld von den Deutschen ist angekommen. Und sie würde nie wieder die flehentliche, hoffnungslos verliebte Miene Gasulls sehen können, der immer davon geträumt hatte, daß sie eines Tages zu ihm sagte, Gasull, du interessierst mich nicht, weil du der beste Rechtsanwalt für die phantasievolle Lösung von Problemen bist, sondern weil ich dich liebe. Aber das war nie geschehen, und Gasull diente ihr noch immer. Warum brennt sich den Leuten die Vergangenheit ins Gedächtnis ein?
    Um Mitternacht war Doktor Combalia fertig: »Jetzt müssen wir auf die Ergebnisse warten. Das kann fünf oder sechs Tage dauern. Machen Sie sich in der Zwischenzeit keine Sorgen, Senyora Elisenda, für alles im Leben gibt es eine Lösung, und selbst im schlimmsten Fall können wir dankbarsein, denn in anderen Fällen verläuft die Krankheit wesentlich aggressiver.«
    Idiot.Was ist aggressiver als die Dunkelheit? Außerdem ist jemand, der so schnell klein beigibt, kein vernünftiger Arzt.
    »Ich möchte einen anderen … Ich möchte noch andere Meinungen einholen.«
    »Das ist Ihr gutes Recht, Senyora Vilabrú.«
    Es wurden drei Meinungen, und sie differierten nur hinsichtlich der Zeit.
    Die Bandbreite reichte von fünf Wochen bis hin zu zwölf Monaten, was ihr eine Atempause verschaffte, bevor sie nicht einmal mehr ihren Schatten erkennen konnte. Auch als das Urteil endgültig feststand, klagte sie nicht. Sie dachte an das, was man ihr gesagt hatte: Zunächst würde sie das Nachlassen der Sehkraft kaum bemerken, dann aber würde es plötzlich von Tag zu Tag schlimmer werden. Sie würde schwarze Flecken sehen, und zuletzt würde nur noch ein kleiner Lichtpunkt übrigbleiben, der erlöschen würde wie ein Leben. Und der Spiegel würde sich kalt, nutzlos und tot anfühlen.
    »Es heißt, Retriever seien die besten Blindenhunde.«
    »Wenn du mir einen Hund kaufst, werfe ich dich aus der Firma und aus meinem Leben.«
    Gasull betrachtete sie verzweifelt. Obwohl er sich mit seinen zweiundsiebzig Jahren ausrechnen konnte, daß das Liebesleben, das er nie gehabt hatte, sich auch in seinen letzten Lebensjahren nicht einstellen würde, träumte er noch immer davon, daß Elisenda eines Tages seine Hand nehmen und sagen würde, »Rück näher, Romà, mir ist kalt«, oder etwas Ähnliches. Aber Elisenda vertraute ihm nur ihre Geschäftsgeheimnisse an, die Geheimnisse ihrer persönlichen Finanzen, die Geheimnisse ihrer schwierigen Beziehungen zu gewissen Leuten, und er diente ihr treu und wurde gut dafür bezahlt, und das

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