Die Stimmen des Flusses
entfernt, daß ihr Licht Jahre und Jahrmillionen braucht, um uns zu erreichen. So viele Jahre, meine Tochter, daß das Licht, das wir heute sehen, von dem Stern vielleicht ausgesandt wurde, bevor es Menschen auf dieser Erde gab. Wenn ich Glück habe, wird meine Stimme Dich erreichen wie das Licht ferner Galaxien, wenn ich schon lange tot bin. Wir sind wie Sterne, meine Tochter. Die Entfernung macht aus uns Sterne wie Spitzen im blauen Himmel.«
»Was er da über die Sterne sagt, ist sehr hübsch.«
»Du bist ein halber Dichter, was, Serrallac?«
Der Mann trank den letzten Schluck Kaffee und zuckte die Schultern. Tina betrachtete die Zeichnung des Hundes. Sie war perfekt, fast meinte man jedes einzelne Haar zu erkennen – und das alles mit einem Schulbleistift. Dann betrachtete sie das Selbstporträt. Man sah ihm an, daß er sich selbst in die Augen gesehen hatte, seinem eigenen Blick nicht ausgewichen war.
»Siehst du? Das bin ich. Ich zeichne mich vor dem Spiegel der Schultoilette, damit Du weißt, wie Dein Vater aussah. Glaub nicht, ich hätte gemogelt: Ich bin tatsächlich so stattlich und schön. Ich sehe genau so aus, denn vom Malen und Zeichnen verstehe ich wirklich was.Wäre ich nur Maler geworden, dann wäre ich nicht hierhergekommen und hätte nicht die Gelegenheit gehabt, mich vor Deiner Mutter als feige und zur Unzeit als wagemutig zu erweisen. Und jetzt würden wir glücklich zusammenleben, ich würde mit Dir spielen und Dir beibringen, die Tauben zu füttern. Und es fiele mir nicht so schwer, jeden Tag beim Rasieren in den Spiegel zu sehen. Ich weiß nicht mehr, welches Gesicht das meine ist. Gestern lag ich offiziell mit Fieber im Bett, dabei bin ich in der Dunkelheit zum Hügel von Triador gegangen, um eine Antenne aufzustellen. Wir haben vor der Nase der Franquisten ein Verbindungsnetz aufgebaut, und ich kann kaum glauben, daß sie es noch nicht entdeckt haben. Als ich ins Dorf zurückkam, hörte ich Stimmen und Schreie. Die Klagen Felisas und die erleichterten Stimmen derer, die dachten, es war aber auch höchste Zeit, daß er für das bezahlt, was er getan hat. Ich hielt es für das Klügste, mich wieder ins Bett zu legen und krank zu stellen, das neue Unglück erst am nächsten Morgen zu entdecken und mich dem Schmerz gegenüber gleichgültig zu zeigen. Das ist so schwer, meine Tochter. Aber ich hatte nicht mit Valentí Targa gerechnet, der andere Pläne hatte. Er schickte Balansó vorbei, einen seiner Gefolgsleute. Der riß mich aus dem Bett, undum ein Uhr nachts hielt Targa uns eine Rede über Leben, Tod und Gerechtigkeit.«
»Daß eines klar ist: Dieser verdammte Mauri ist von sonst woher zurückgekommen, um sich – aus welchem Grund auch immer – am Dorfeingang das Leben zu nehmen. Und wer was anderes behauptet, wird mich ein Leben lang zum Feind haben, verstanden?«
»Und Felisa?«
»Die wird nichts sagen. Niemand aus der Familie von Ignasis Maria wird was sagen, damit sie nicht als Komplizen verhaftet werden. Fünf Jahre hat er sich vor unserer Nase versteckt, der Mistkerl! So. Hat das jetzt jeder kapiert?«
Ja, ja, schon klar, in Ordnung. Die Männer gingen auseinander.
»Ich habe gehört, du hast Fieber.«
»Achtunddreißig. Kann ich zurück ins Bett?«
Targa trat auf Oriol zu und legte ihm beinahe zärtlich die Hand auf die Stirn.
»Du glühst ja. Geh schon.«
»Ich weiß nicht, meine Tochter, ob es meine Stirn oder seine Hand war, die glühte, oder ob er sich über mich lustig machte. Auf jeden Fall sagte er mir, ›Du glühst‹, und blickte mich mit diesen furchteinflößenden Augen an, die ich auf seinem Porträt verewigt habe. Dann sah er mir schweigend nach, wie ich in mein Bett zurückkehrte, wo ich offiziell die letzten Stunden verbracht hatte.
Laß mich Dir ein paar Ratschläge erteilen, wenn ich Dir schon nicht einmal für eine Minute Deines Lebens ein Vater sein konnte: Hör auf Deine Mutter; sie ist eine großartige, starke Frau und hat ein fröhliches, tapferes Herz. Hab sie lieb und laß sie nie allein. Tu nie etwas, mein Kind, was einen anderen Menschen demütigen oder ihm schaden könnte. Sei jederzeit frei und mutig bei dem, was Du tun mußt. Dein Vater wird wohl sterben, weil er gelernt hat, eine politische Lage, in der es keine Freiheit gab, nicht hinzunehmen. Denk daran und erweise Dich Dein Leben lang der Ideen würdig,für die ich mein Leben gebe. Glaube nicht, ich wäre ein Held.Vielleicht werde ich einfach vor Erschöpfung sterben. Du mußt wissen,
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