Die Stimmen des Flusses
und sagte: »Endlich kann das arme Kind weinen wie alle Frauen.«
60
Sie holte Luft, als wollte sie ins Wasser springen, dann betrat sie, ohne noch einmal nachzudenken, das Restaurant der Pension, wo Jordi und Joana vor einem Teller Schnecken Ehebruch begingen. Sie sah Jordi an, als sie einen Stuhl nahm und sich zwischen die beiden setzte, als wollte sie mit von der Partie sein. Ohne Joana eines Blickes zu würdigen, sagte sie zu den Servietten: »Joana Rosa Candàs Bel, ich glaube, du solltest einen Augenblick hinausgehen.« Dann sah sie wieder Jordi in die Augen, und dieser hielt ihrem Blick stand. Da packte sie eine gewaltige Wut, weil sie in diesem Moment weder Verachtung noch Haß, Ekel oder Rachsucht verspürte. Statt dessen tat es Tina unter Jordis Blick nur leid um all die Jahre, um Arnau, um uns beide, die wir anständig und ehrlich hatten sein wollen, um ihre Reise nach Frankreich, um ihren Entschluß, nach Sort zu ziehen, um die Berge, die vielen glücklichen, ruhigen Tage voll von gegenseitigem Verständnis. Sie mußte sich zusammennehmen, um sich nicht von ihrer eigenen Geschichte forttragen zu lassen. Joana war aufgestanden, bleich und stumm, hatte ihre Tasche genommen und war verschwunden, und so setzte sie sich Jordi gegenüber, auf den Stuhl, der noch warm war von Joanas Hintern. Mit krankhafter Befriedigung stellte sie aus den Augenwinkeln fest, daß die Leute an den Nebentischen auf sie aufmerksam geworden waren. Auch der Pensionswirt an der Empfangstheke hatte etwas bemerkt und dachte, o nein, es ist diese Frau; und die Wirtin, die gerade aus der Küche kam, sagte, »Oh, sieh mal, da ist diese Frau«, und lächelte voller heimlicher Bewunderung.
»Am traurigsten finde ich, daß du mich belügst.«
Jordi wurde rot, weiß und grün; er wußte nicht, ob eraufstehen und gehen oder das Donnerwetter über sich ergehen lassen sollte.
»Ich …«
Sie musterte ihn, das Kinn in die Hände gestützt, neugierig darauf, wie er sich wohl herausreden würde. Als aber Jordi nur mit offenem Mund dasaß und nichts sagte, provozierte sie ihn: »Die Lehrerrunde fand wohl im kleinsten Kreise statt?«
»Nun ja … Also … Schließlich ist sie dann doch abgesagt worden.«
»Aha.«
»Was ist nur mit dir los?« O nein: Der Mistkerl ging zum Gegenangriff über. »Warum machst du eine solche Szene? Was denkst du dir eigentlich?«
»Soll ich dir sagen, was ich denke?«
»Du beschuldigst mich hier des …« Er tippte sich mit zwei Fingern an die Stirn: »Laß uns um Himmels willen nicht spießig oder provinziell sein, wir leben schließlich im einundzwanzigsten Jahrhundert.« Er sah sie an, um zu prüfen, welchen Eindruck seine Worte gemacht hatten. Dann legte er nach: »Was weiß ich, was du dir jetzt einbildest.«
»Du bist peinlich.«
Ich dachte, du seiest eleganter, Jordi.
Sie schwiegen. Jordi wollte sich nicht umsehen, weil das noch unangenehmer gewesen wäre. Als die Stille zu drückend wurde, sagte er, um ihr die Schwere zu nehmen: »Was bildest du dir bloß für Geschichten ein! Daß Joana und ich … Wirklich? So wenig vertraust du mir?« Er gab sich tief gekränkt: »So wenig?«
»Wenn ich heute abend nach Hause komme, will ich, daß deine Sachen aus der Wohnung verschwunden sind, sonst werfe ich sie aus dem Fenster.Wie Sophia Loren.«
»Sollten wir nicht erst mal miteinander reden?«
»Du hast doch schon alles gesagt. Mich hast du nicht zu Wort kommen lassen.«
Sie richtete sich kerzengerade auf und hob die Stimmegenau so viel, daß Jordi sich noch unbehaglicher fühlen mußte: »Wollten wir nicht anständig sein, Jordi?«
Jordi reckte einen Finger empor, um sich irgendeine Dummheit auszudenken. Aber nachdem er eine Weile überlegt hatte, senkte er den Finger wieder und ließ den Kopf hängen. Er leistete keinen Widerstand mehr, sicher, weil sie ihn zu sehr überrascht hatte. Immerhin raffte er sich noch auf, sie anzusehen: »Was hat der Arzt dir gesagt?«
Tina stand auf und sah auf die Uhr.
»Um elf bin ich zu Hause. Laß dir nicht einfallen, Juri mitzunehmen.«
Sie war drauf und dran, ihm zu sagen, »Du bist ein Schuft«, aber dann ließ sie es doch sein. Sie war drauf und dran, ihm zu sagen, »Ich gebe dir noch eine zweite, dritte oder vierte Chance«, aber auch das tat sie nicht. Sie ging, mit hartem, dunklem Blick, um zu verhindern, daß die Tränen kamen, bevor sie ihren 2CV erreicht hatte. Am meisten erboste sie, daß Joana nicht gegangen war. Sie saß in ihrem neuen grünen Wagen,
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